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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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bemerkte Marinas entsetzten Gesichtsausdruck. «Nur aus anthropologischer Sicht, selbstverständlich.»
    Sie traten durch das offene Tor in den kleinen Hof. Sobald sie unter den Schatten der Bergwand traten, wurde die Luft auf einmal kühl, und alle Geräusche erstarben. Zu hören war nur das Plätschern von Wasser, das aus einem Rohr mit schlangenkopfförmigem Ende in ein Marmorbecken strömte. Grant schnupperte und nahm den vertrauten Geruch fauler Eier wahr. «Schwefel.»
    Aber Reed und Marina hörten es nicht – sie standen bereits an der Tür der Kirche. Sie drückten die Klinke herunter, und die Tür schwang auf. Grant folgte ihnen ins Innere.
    Es war eine schlichte Kirche: ein niedriger, länglicher Raum mit schmucklosen Wänden, Fensterschlitzen und einem tonnenförmig gewölbten Dach. In den Ecken lagen alte, vertrocknete Blumensträuße, dem stillen Verfall preisgegeben, und auf der Stufe vor dem Altar stand eine Ansammlung roter Glasleuchten, deren Kerzen jedoch schon vor langer Zeit heruntergebrannt waren. An der Rückwand der Kirche befand sich eine einzelne Ikone der Jungfrau Maria, breitbeinig dastehend und mit wie segnend erhobenen Händen. Das Jesuskind blickte ihnen aus einem goldenen Kreis in ihrem Bauch entgegen.
    «Falls Ihnen diese Haltung irgendwie bekannt vorkommt, liegen Sie goldrichtig.» Reed holte Pembertons mitgenommenes Notizbuch heraus und schlug eine Seite im vorderen Teil auf. Darauf war eine Tintenskizze zu sehen: eine barbusige Frau mit Wespentaille in einem langen Rock, an deren ausgestreckten Armen sich eine Schlange entlangwand. «Die minoische Muttergöttin.»
    «Die hat aber bessere Brüste als die Jungfrau Maria», sagte Grant. Er schaute Marina nicht an, bekam aber aus dem Augenwinkel mit, wie sie sich bekreuzigte.
    «Und sehen Sie sich das Jesuskind an. Es scheint sich in ihr zu befinden – in ihrer Gebärmutter.» Reed wandte sich halb um, musterte das Kircheninnere. «Sind Sie mit dem hinduistischen Konzept der avataram vertraut? Einzelne Aspekte der Inkarnationen der Götter wandeln sich, aber die zugrundeliegenden Wahrheiten sind ewig.»
    Marina runzelte die Stirn. «Wenn Sie schon zweitausend Jahre christlicher Lehre verwerfen wollen, könnten Sie das nicht wenigstens draußen tun?»
    «Neue Religionen sind wie diebische Elstern – sie bauen mit Vorliebe auf den Grundlagen der Glaubenslehren auf, die sie beiseitegefegt haben. Sowohl in theologischer wie rein physischer Hinsicht.»
    «Wollen Sie damit andeuten, dass wir die Kirche hier abreißen sollen?»
    «Nein. Aber wir müssen schon nach Archäologenart vorgehen.»
    «Und das bedeutet?», fragte Grant.
    «Na, den Dingen auf den Grund gehen.»
    Reed durchmaß langsam den Raum, den Blick auf die schweren Steine gesenkt, mit denen der Boden gefliest war. Drei Meter vor dem Altar kniete er sich plötzlich hin und fing an, an etwas herumzuwischen. Marina und Grant kauerten sich neben ihn. In den Boden war ein Eisenring eingelassen. Reed klappte ihn hoch und zog daran. Nichts rührte sich.
    Mit verlegenem Blick wandte er sich zu Grant. «Würde es Ihnen etwas ausmachen?»
    Grant platzierte seine Füße links und rechts von dem Stein, ging in die Hocke und zog. Die Fugen waren voller Schmutz – offenbar war der Stein seit vielen Jahren nicht angerührt worden –, doch langsam begann er sich zu bewegen. Ein Spalt öffnete sich, und Marina ließ das Blech der Schaufel hineingleiten. Gemeinsam hievten und hebelten sie den Stein heraus, bis eine Öffnung zum Vorschein kam, die groß genug war, um hineinzuklettern. Ein dunkler Abgrund gähnte in der Tiefe.
    «Was sich da unten wohl befinden mag?»
    Grant nahm eine der Glasleuchten vom Altar und ließ sie hineinfallen. Sie prallte gegen etwas Hartes, zerbrach aber nicht. Beruhigt schwang Grant die Beine in die Öffnung und ließ sich hinabgleiten. Er befand sich gerade bis zu den Schultern in dem Loch, als seine Füße festen Grund berührten. Er ließ sich ganz hineingleiten und zündete ein Streichholz an.
    Er befand sich in einer Kammer mit gestampftem Lehmboden, die offenbar dieselben Abmessungen wie die Kirche hatte. Überall um ihn herum sprossen Steinsäulen aus dem Boden, die den Kirchenboden stützten. Manche waren unversehrt und trugen noch ihre alten Schmuckkapitelle, andere waren offenbar irgendwann in der Vergangenheit eingestürzt und mit Zement wieder zusammengefügt oder auch mit groben Bruchsteinen ergänzt worden. Auf dem Boden lag vereinzelt Stroh

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