Der vergessene Tempel
etwas?»
«Nein.»
«In einer Ekphrasis unterbricht ein Dichter seine Erzählung, um eine lange, anschauliche Beschreibung eines wertvollen Kunstgegenstands einzuschieben, in der Regel von Waffen oder Rüstungen.»
«Anders gesagt, er schweift also ab», sagte Muir.
«Von der Erzählung mag er abschweifen, aber für die Dichtung ist das wesentlich. Bei Homer gehören manche dieser Ekphrasen zu den dramatischsten Passagen. Und die längste, großartigste von allen findet hier auf Lemnos statt, in der Werkstatt des Hephaistos. Er schmiedet einen Schild, den er mit einer Fülle unglaublich lebensnaher Darstellungen schmückt. Ein Mikrokosmos des Lebens – Szenen aus dem Alltagsleben und Szenen aus dem Krieg. Ein Zwischending aus einem Breughel-Gemälde und dem Bildteppich von Bayeux. In den Städten tanzen und zechen Männer und Frauen, während Rechtsanwälte und Politiker auf dem Markt disputieren. Auf den Feldern wechseln sich die Jahreszeiten ab: Es wird gesät und geerntet, Trauben werden zu Wein gekeltert. Schäfer treiben ihre Schafe auf die Weide. Armeen marschieren ein, Kriege werden ausgefochten. All das ist auf dem Schild dargestellt.»
Während Reed sprach, hatte Grant das eigentümliche Gefühl, sich frei schwebend von der Wirklichkeit zu lösen. Der Schein der Taschenlampe huschte in der Kammer umher, fuhr auf dem Fries von Bild zu Bild, sodass jedes ganz kurz erleuchtet wurde. In seinem Kopf schwammen die Bilder ineinander wie die Sequenzen eines Films, ein Panorama der Welt. Dort waren sie zu sehen: Jünglinge und geschmeidige Mädchen beim Tanz, so lebensähnlich, dass sie sich im zitternden Schein der Taschenlampe zu bewegen schienen. Ochsen zogen Pflüge über Äcker, und aus den Furchen spross Weizen empor, den die Treiber, nun bewaffnet mit Sicheln, schnitten und zu Garben zusammenbanden. Ein Band Männer wand sich über ferne Hügel hinweg auf eine große Stadt zu, vor deren Mauern sich zwei Armeen gegenüberstanden. Unter einer dichtbelaubten Eiche saß friedlich ein Stier, am Boden festgebunden, während ihm Frauen Bänder durch die Hörner flochten und Männer ihre Messer wetzten.
Der Lichtstrahl beendete seinen wirbelnden Tanz und kam zur Ruhe, als Reed seine Schilderung abschloss. Der Film war vorüber, in die Kammer kehrte wieder Stille ein.
«Ich dachte, das wäre nur ein Märchen», brach Grant schließlich das Schweigen.
«Ich auch. Aber dies hier …» Reed sprach zögerlich, wog jedes Wort behutsam ab, als sei er sich nicht sicher, ob es dem Gewicht seiner vollen Bedeutung gewachsen war. «Dies hier ist genau das, was Homer beschreibt. Und hier genau beschreibt er es.»
«Auf einem Schild?»
«Dem Schild des Achill.» Er sprach den Namen fast ehrfürchtig aus. «Es dürfte wohl Sinn ergeben, nehme ich an. In der Bronzezeit war Eisen das seltenste aller Metalle – vierzigmal wertvoller als Silber. Davon einen so großen Klumpen wie diesen Meteoriten zu finden dürfte in etwa dem Fund des Koh-i-Noor-Diamanten entsprochen haben. So etwas wird man nicht zur Herstellung von Taschenmessern und Axtklingen eingeschmolzen haben. Daraus dürften sie etwas Außergewöhnliches erschaffen haben – etwas Legendäres. Etwas, von dem die Dichter noch Generationen später singen würden, dem auch dreitausend Jahre nichts würden anhaben können.»
Reed lehnte sich gegen den Altar. Die Steinhörner, die diesen zierten, wölbten sich um ihn wie Flügel.
«Und, wo finden wir diesen Schild?», fragte Grant.
DREIZEHN
«Zum Verständnis dieser Geschichte müssen Sie sich über manche Sachverhalte im Klaren sein.» Reed richtete seine Taschenlampe wieder auf den Fries, auf die steinerne Armee unterhalb der Stadtmauern. «Die Griechen, die sich nach Troja aufmachten, bildeten die Elite ihrer Zeit. Menelaos, König von Sparta und Gemahl der schönen Helena. Agamemnon, sein Bruder, der Großkönig von Mykene. Odysseus, der geniale Stratege, und Ajax, stark wie ein Stier. Größer als sie alle jedoch und für die Griechen ganz und gar unersetzlich war Achilles.
Nun ist die Annahme weit verbreitet, in der Ilias werde die gesamte Geschichte des Trojanischen Krieges erzählt: die tausend Schiffe, die zehnjährige Belagerung, der Tod des Achill und schließlich die Plünderung und Zerstörung der Stadt.» Reed spitzte die Lippen, trug die müde Miene eines Mannes zur Schau, der sein Leben lang einen zähen Krieg gegen die Unwissenheit geführt hatte. «Tatsächlich erzählt die Ilias jedoch nur von
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