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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Fuß. Er drehte den Kopf herum. Das Licht von dem Gasauslass konnte wohl kaum so weit den Durchgang hinabdringen, aber dennoch hing ein schwaches Leuchten in der Luft. Während er in der Dunkelheit umherspähte, meinte er einen trüben Lichtschein ausmachen zu können, der kreisrund über ihm in der Tunneldecke schwebte. Er streckte eine Hand in die Höhe und spürte einen kühlen Luftzug.
    Er tastete an dem Rand des Lochs über seinem Kopf herum. Der schwarze Basalt war ganz glatt geschliffen, zu einem Glanz poliert, der auch nach dreißig Jahrhunderten der Finsternis nicht stumpf geworden war. Das Loch war fast vollkommen kreisrund, schien jedoch furchtbar eng. Enger sogar als der Schlitz, durch den er sich hatte zwängen müssen, um in den Tunnel zu gelangen.
    «Gibt keinen anderen Ausweg», brummte er vor sich hin. Er schnallte seinen Gürtel auf und streifte seine Hose ab – um da hindurchzugelangen, kam es auf jeden Bruchteil eines Zentimeters an. Er zog den Bauch ein und richtete sich auf, sodass er direkt unter dem Loch kauerte. Er hob die Arme über den Kopf und drückte sie zusammen wie ein Schwimmer vor dem Kopfsprung. Dann stand er auf.
    Der Stein war so eng wie eine Schlinge. Er drehte und wendete sich, zwängte sich unter Qualen Zentimeter für Zentimeter hindurch. Der Rand war nicht so blank gewetzt, wie er zunächst angenommen hatte: An seinem Körper verwandelte sich jeder kleine Grat in eine Rasierklinge, die ihm die nackte Haut blutig kratzte. Vor Schmerz biss er die Zähne zusammen – wenigstens sorgte das Blut dafür, dass er etwas leichter hinaufglitt. Seine Schultern waren hindurch; als Nächstes sein Brustkorb, obwohl es sich anfühlte, als würde ihm dabei jede Luft herausgepresst. Jetzt konnte er die Hände ebenso einsetzen wie seine Füße – und das kam sehr gelegen: Es bedurfte all seiner Kraft, die Hüften hindurchzuzwängen. Falls sie überhaupt hindurchpassten. Vielleicht würde er am Ende stecken bleiben, unfähig, sich nach unten oder nach oben zu bewegen, bis das Fleisch ihm von den Knochen gefault war und der Stein sein Skelett endlich freigab.
    Etwas gab nach – nicht in ihm, gottlob, sondern um ihn herum. Er war hindurch. Mit einer letzten Anstrengung stemmte er sich hoch und fand sich – nackt, blutend und nass – in dem außergewöhnlichsten Raum wieder, den er je gesehen hatte.

ZWÖLF
    Nach der schrecklichen Enge des Tunnels kam ihm der Raum schwindelerregend groß vor. Er lag auf dem Boden eines, so schien es, gewaltigen Bienenkorbs: eine runde Steinkammer, deren Seiten sich sachte einbogen, bis sie sich in einem Punkt hoch über ihm trafen. Direkt darunter, nur wenige Meter von ihm entfernt, war in den Boden ein kreisrundes Loch eingelassen, einem Brunnen ähnlich. Nur dass dieser Brunnen kein Wasser enthielt, sondern Feuer. Flammen züngelten am Rand entlang, ein riesiger Gasring, der die gesamte Kammer mit einem gedämpften, orangeroten Glühen erfüllte. An einer Seite, gleich bei der Öffnung, durch die Grant sich gezwängt hatte, stand ein monolithischer Steinaltar, gekrönt von einem Paar steinerner Hörner.
    Grant besah sich die Wände genauer, die mit unfassbar detailreichen Reliefs geschmückt waren: Bänder konzentrischer Friese, ergänzt durch eine Menagerie von Vögeln und Tieren, alles in den Stein gemeißelt. Trotz der dicken Rußschicht waren die Bilder noch recht deutlich. Auf einer Bildleiste konnte Grant die zwergenhaften Gestalten der Kabiren erkennen, knollig und geradezu lachhaft gut bestückt, die im Feuerschein tanzten und zechten. Auf der Leiste darüber marschierten Armeen in den Krieg, und Bauern brachten auf den Feldern die Ernte ein. Es war das in Stein gehauene Abbild einer versunkenen Kultur.
    «Grant?»
    Die Stimme hallte in der kuppelförmigen Kammer wider, dann wurde vernehmlich nach Luft geschnappt. Marinas Kopf ragte aus dem Loch im Boden, und sie musterte voller Staunen ihre Umgebung – noch größer aber wurden ihre Augen, als ihr Blick auf Grant fiel. Sie lachte kurz verlegen auf und wandte den Blick ab, sichtlich errötend im Feuerschein. Grant kam zu Bewusstsein, dass er immer noch splitternackt war.
    «Na, der Anblick ist mir ja nicht ganz unbekannt», sagte sie, hörbar um Sachlichkeit bemüht, aber ohne rechten Erfolg.
    «Ich habe bloß auf den Beginn der unaussprechlichen Riten gewartet.»
    «Da bist du wohl etwas zu spät dran.» Sie bugsierte seine zusammengelegte Hose aus dem Loch und warf sie quer durch die Kammer. «

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