Der vergessene Tempel
der ihn ins Bein traf –, während er an den Toren Trojas kämpfte. Einer Zusammenfassung in der Odyssee zufolge verbrannten ihn die Griechen danach und beerdigten seine Asche in einer goldenen Urne unweit der Mündung der Dardanellen.»
Und das heilige Heer der sieggewohnten Achaier
Häufte darüber ein großes und weitbewundertes Denkmal
Auf der Spitze des Landes am breiten Hellespontos,
Dass es fern im Meere vorüberschiffende Männer
Sähen, die jetzo leben, und spät in kommenden Jahren.
Grant blickte hoch. «Stimmt das? Befindet sich das Grab noch dort?»
«An den Küsten des Bosporus gibt es Hügelgräber», antwortete Marina. «Archäologen haben sie ausgegraben, aber nie etwas Bedeutendes zutage gefördert. Keinen Schild auf jeden Fall.»
«Außerdem», fügte Reed hinzu, «kam die Verbrennung von Toten erst in der Eisenzeit auf. Die Mykener in Troja hätten ihre Toten eher in Gräbern beigesetzt. Hier handelt es sich um einen Anachronismus in dem Gedicht.»
Muir stand auf. «Ein Anachronismus? Verdammt, das ist doch alles anachronistisch. Wir versuchen hier etwas von höchster nationaler Bedeutung zu finden, und alles, was Sie mir liefern, ist Hokuspokus und eine dreitausend Jahre alte Gespensterspur. Ob Achilles einen Pfeil in die Ferse oder in den Kopf bekommen hat, ob er verbrannt oder begraben wurde, wen kratzt das schon. Es hat ihn doch gar nicht gegeben , verflucht.»
«Aber irgendjemanden hat es gegeben.» Reed ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Womöglich war sein Name nicht Achilles, seine Ferse war vermutlich nicht verwundbarer als sein restlicher Körper, und ich bezweifle auch, dass seine Mutter eine Meeresnymphe war – aber jemanden hat es gegeben. Falls die Schmiede hier auf Lemnos diesen Schild gefertigt haben, hat ihn auch jemand bekommen. Jemand Außergewöhnliches – würdig, ein so wertvolles und heiliges Stück Rüstung zu führen. Jemand, der Stoff für Geschichten und Legenden geliefert hat, mögen sie am Ende noch so verfälscht und verworren gewesen sein. Jemand, dessen Leben in der Geschichte unauslöschliche Spuren hinterlassen hat.»
«Geschichte? Ich dachte, es geht hier um Literatur. Um Mythen und Sagen.»
«Vor hundert Jahren dachte alle Welt, der Trojanische Krieg sei ein bloßer Mythos, reine Erfindung. Dann begann Schliemann zu graben. Und zwar ohne lange zu suchen oder herumzuprobieren. Er begab sich schnurstracks nach Troja und stieß seine Schaufel in die Erde. Dann begab er sich weiter nach Mykene, der Hauptstadt Agamemnons, und ging dort ganz genauso vor.»
Grant schaltete sich ein. «Woher wusste er, wo er hinmusste?»
«Das war allen bekannt.» Reed war in die Mitte der Kammer geschlendert, wo ihn das Licht der Gasflamme wie ein Schein einhüllte. «Das ist ja das Unwahrscheinliche. Das Wissen ging nie verloren. Wir verfügen noch über zweitausend Jahre alte Reiseführer, in denen diese Orte für Touristen der Antike beschrieben werden. Was uns verloren ging, war der Glaube – das Vertrauen, dass in diesen Geschichten auch Wahrheit steckte. Schliemann brauchte bloß wieder zu glauben, das war alles.»
Muir drückte seine Zigarette am Altar aus und warf sie in die lodernden Flammen. «Na schön.» Seine Stimme klang ebenso hart wie spöttisch. «Was also soll ich Ihrer Meinung nach tun? In die Türkei fahren und dort jeden einzelnen Erdhügel aufbuddeln, um zu sehen, ob sich darin vielleicht ein Schild befindet?»
«Das ist nicht nötig.» Reeds Tonfall war jetzt wieder freundlicher. «Falls die Geschichten stimmen, befindet sich der Schild nicht mehr dort.»
«Sie haben gesagt, Achilles sei in Troja beerdigt worden.»
«So war es auch. Aber seine Rüstung wurde nicht mit ihm zusammen begraben. Die Griechen hielten einen Wettkampf ab, um zu bestimmen, wer sie erben sollte, und dabei hat Odysseus gewonnen.»
«Herr im Himmel – hört das denn gar nicht auf? Was hat er damit angestellt?»
«Das weiß niemand. Hier verschwindet der Schild des Achill vollständig aus der Legende. Auf Odysseus trifft das natürlich nicht zu – seine zehnjährige Irrfahrt heim nach Ithaka bildet das Thema der Odyssee . Soweit ich weiß, ist aber von der Rüstung des Achill in der Odyssee nie die Rede, bis auf eine kurze Anspielung darauf, dass Odysseus sie gewonnen hat. Und so häufig, wie Odysseus auf seiner Irrfahrt Schiffbruch erlitten hat, erscheint es undenkbar, dass er sie mit nach Hause gebracht hat.»
Muir klappte sein elfenbeinbesetztes Zigarettenetui
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