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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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etwa zwei Wochen dieses Krieges, im letzten Jahr der Belagerung. Zwischen Agamemnon und Achilles kommt es wegen der Aufteilung der Beute – in diesem Fall einer Frau – zu einem Zerwürfnis, und Achilles zieht sich wutentbrannt zurück, damit die Armee der Griechen sehen kann, wie sie ohne ihn zurechtkommt. Nicht sonderlich gut, wie sich herausstellt: Unter der Führung des Prinzen Hektor nutzen die Trojaner den Rückzug des verstimmten Achilles dazu, die Griechen fast völlig aufzureiben. Achilles lässt sich weiter nicht erweichen, sein Gefährte Patroklos aber zieht, angetan mit der Rüstung des Achill, in die Schlacht. Alle halten ihn für Achilles; das Blatt wendet sich, und für die Griechen läuft alles glänzend, bis Hektor auftaucht, die Illusion zerstört, indem er Patroklos tötet und anschließend die Rüstung an sich nimmt.»
    Der Lichtstrahl der Taschenlampe wanderte weiter zur nächsten Bildtafel. Jetzt standen sich die Armeen an einem breiten Fluss gegenüber, schleuderten Speere hinüber, während im Hintergrund auf Streitwagen Verstärkung anrückte.
    «Damit gerät Achilles ein wenig in eine Zwickmühle. Zwar brennt er darauf, Rache an Hektor zu nehmen, hat aber keine Rüstung mehr. Also begibt sich seine Mutter – die Meeresnymphe Thetis – zur Schmiede des Hephaistos auf Lemnos und beauftragt ihn, eine neue Rüstung zu schmieden. Der Schild ist fraglos das Meisterwerk, zu der Rüstung gehören aber auch noch Beinschienen, ein Brustpanzer und ein Helm. Standesgemäß ausgerüstet, macht Achilles Hektor auf dem Schlachtfeld ausfindig, ficht einen Zweikampf mit ihm aus und tötet ihn. Dann bindet er den Leichnam an den Füßen an seinem Streitwagen fest und schleift ihn um die Stadt herum, bis der trojanische König Priamos, der Vater Hektors, Achilles in seinem Zelt aufsucht und um den Leichnam seines Sohnes bittet. Der Gram des alten Mannes rührt Achilles so sehr, dass er sich schließlich erweichen lässt und ihm den Toten überlässt. Ende der Geschichte – und alle leben glücklich bis an ihr Lebensende. Nur auf die meisten von ihnen trifft das natürlich nicht zu.»
    «Ich dachte, Achilles wäre durch einen Giftpfeil in seiner Ferse getötet worden.»
    «An diese Geschichte», sagte Reed, «glauben viele irrtümlicherweise. Achilles und seine Ferse sind aber eher ein Mythos.»
    «Das ist doch alles ein Mythos, verdammt», sagte Muir abschätzig.
    Reed warf ihm einen verärgerten Blick zu. «Darauf komme ich noch zu sprechen. Was ich zu erklären versuchte, ist, dass Achilles’ Ferse in der ursprünglichen Legende nicht vorkommt. In den ältesten Quellen wird nichts davon erwähnt, dass er in der Ferse getroffen worden oder dort auch nur besonders verwundbar gewesen wäre. In einer schriftlichen Quelle taucht das erst während unserer Zeitrechnung auf – sieben- oder achthundert Jahre nach Homer. Über Achilles’ Tod berichtet Homer nichts. Die Ilias endet, bevor er stirbt, und die Odyssee greift den Faden der Geschichte einige Zeit danach auf.»
    «Nun, wenn Homer nichts darüber berichtet, wer tut es dann?»
    Reed beugte sich vor. «Am Ende der klassischen Epoche war Homer zu einem unumstrittenen Grundpfeiler der griechischen Kultur geworden. Seine Gedichte waren so etwas wie die Bibel, Shakespeare und die Legenden um König Artus in einem. Aber Homer hat sich die Geschichten nicht ausgedacht – er hat sie für seine Dichtung adaptiert. Die Erzählungen um Troja existierten bereits, in einander überlappenden, mitunter widersprüchlichen Fassungen, als mündlich überlieferte Gesänge und Volkssagen, Mythen und Legenden. Anfangs dürfte seine Fassung nur eine unter vielen gewesen sein. Nach und nach mauserte sie sich zur weithin bevorzugten, am Ende dann zur letztgültigen, maßgeblichen Fassung. So stark war die Kraft seiner Poesie.
    Aber auch die anderen Überlieferungen überdauerten: Homers Gedichte würden ansonsten keinen Sinn ergeben. Es gibt eine riesige Fülle Literatur von anderen Dichtern, Schriftstellern und Dramatikern, die den Trojanischen Krieg als Stoff verarbeitet haben: Sophokles, Aischylos, Vergil – ganz zu schweigen von Shakespeare, Tennyson, Chaucer … Die Liste ist praktisch endlos, weil sie noch heute fortgesetzt wird, über zweieinhalbtausend Jahre nachdem Homer erstmals die Feder aufs Papier setzte.»
    «Und, wie ist Achilles denn nun zu Tode gekommen?»
    «Die Überlieferung berichtet, dass er von Paris getötet wurde – womöglich durch einen Pfeil,

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