Der vergessene Templer
nehmen musste, um das Boot zu starten.
Dagmar betrat das Heck hinter Harry. Ich folgte ihnen, und wir schauten gemeinsam zu, wie Sven Nolte sich bückte und das Tau vom Poller löste.
Bevor er an Deck ging, schaute er sich um, aber es wies nichts darauf hin, dass jemand anderer sich hier im Bootshafen befand. Die nächtliche Stille drückte schon auf unser Gemüt, und auch ich war mir nicht mehr so sicher, den richtigen Weg eingeschritten zu haben. Für den vergessenen Templer gab es auch andere Möglichkeiten.
Schweigend hatten wir uns im Ruderstand versammelt. Eine graue Plane schützte ihn und unsere Köpfe. Sie war an zwei Stangen und der Gischt abweisenden Frontscheibe befestigt.
Da wir recht tief lagen, war uns ein Überblick nicht mehr gestattet. Nur merkten wir schon, dass unser Boot nicht mehr festgetäut war, denn es wurde dem Spiel der anrollenden Wellen überlassen, die es hin- und herschoben.
Sven Nolte war nervös, und endlich traute er sich, seine Frage zu stellen, die ihm schon länger auf der Seele brannte.
»Wie lange sollen wir denn hier noch warten?«
Eine Antwort gab zunächst keiner von uns. Wir selbst wussten es nicht und merkten erst jetzt, auf welch tönernen Füßen unser Plan stand. Es war nichts abgesprochen worden, aber ich merkte, dass ein gewisser Druck allmählich zunahm.
Natürlich stand Sven Nolte unter einer noch größeren Spannung. Es wäre fatal gewesen, wenn wir seine Sharon als Leiche gefunden hätten.
»Wie lange denn?«
Dagmar Hansen sprach mit ihm. Sie war eine Frau, die sehr einfühlsam sein konnte, denn genau das brauchte Sven jetzt.
Ich ließ die drei stehen und kletterte die wenigen Sprossen einer Leiter hoch, die mich auf das Deck brachte und dorthin, wo sich die nicht sehr hohe Reling befand.
Hier konnte man seine Badetücher ausbreiten und in der Sonne liegen. Das kam zu diesem Zeitpunkt nicht infrage. Ich schaute stattdessen über die anderen Bootskörper und auch den Strom hinweg. Flussabwärts bewegte sich ein Licht auf dem Wasser. Ob es ein fahrendes Boot war, konnte ich nicht erkennen.
Plötzlich veränderte sich alles.
Die Stille riss. Das Geräusch eines anlaufenden Motors war zu hören. Nicht in unserer unmittelbaren Nähe, sondern praktisch am Ende des letzten Steges.
Schaum gischtete über die Oberfläche des dunklen Wassers, und wenig später löste sich schwerfällig, wie es mir erschien, ein Boot aus der Reihe der anderen.
Wer fuhr um diese Zeit noch los?
Kein normaler Mensch, und mir war klar, dass wir genau das Richtige getan hatten.
Die Jagd konnte beginnen!
***
Sharon Ford sah den Kopf und sagte nichts!
Sie konnte nicht reden. Sie schrie auch nicht. Sie gab keinen Laut von sich. Sie saß einfach nur auf diesem klebrigen dunkelroten Kunstleder wie in einer eingetrockneten Blutpfütze. Es wunderte sie nur, dass sie atmen konnte, und diese Geräusche nahm sie sehr wohl wahr.
Kein Totenschädel!
Sie war nicht enttäuscht, obwohl sie eigentlich damit hatte rechnen müssen. Wer so lange unter der Erde lag, dessen Fleisch und Haut mussten einfach vermodert sein, wenn nicht schon längst zu Staub zerfallen. Das war bei diesem Ritter nicht der Fall, denn unter dem Helm war ein normaler Kopf zum Vorschein gekommen.
Aber welch ein Kopf!
Sharon schaute ihn an und konnte es kaum glauben. Sie bemerkte wie nebenbei, dass der Ritter seinen Helm weglegte und den Schädel so drehte, dass er sie direkt anschauen konnte. Die Frau erlebte es wie einen Zwang, denn es gelang ihr nicht, ihr Gesicht wegzudrehen.
Es war ein blauer Schädel!
Auf keinen Fall erlag sie einer Täuschung. Er leuchtete in einem dunklen und dennoch kalten Blau. Ein breiter Mund mit schwarzen Lippen erschreckte sie ebenfalls. Hinzu kam die wie aus Holz geformte Nase und Augen... ja, waren das überhaupt Augen?
Sie schaute nicht in Augen hinein, sondern in zwei finstere Fenster, die aber nichts an sich heranließen. Sie verbargen das Unheimliche in der Tiefe, und so waren nur die beiden Tümpel zu sehen, die wie mit Schlamm gefüllt wirkten.
Die Gesichtshaut spannte sich wie Pergament, das entsprechend gezogen worden war. Also sehr dünn, und Sharon Ford konnte sich vorstellen, dass sie plötzlich riss, wenn sich die Gestalt zu stark bewegte.
In diesen finsteren Fenstern war nichts zu erkennen. Keine Farbe lockerte die Schwärze auf, und als sie den Blick weiter anhob, um auf den Kopf zu schauen, sah sie, dass die Gestalt kein einziges Haar besaß. Der Schädel war blank
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