Der verhängnisvolle Urlaub
Mimmi sah in den Augen ihrer Tochter Tränen aufsteigen.
»Karin!« rief sie. »Was hast du?«
Karin preßte die Lippen zusammen, um nicht loszuheulen.
»Habe ich dir, ohne es zu wissen, wehgetan, mein Kind?«
»Nein, Mutti.«
»Doch«, sagte Mimmi ganz bestimmt. »Ich sehe es.«
Mit Karins Beherrschung war es vorbei. Der Tränensturz löste sich und benetzte ihre Hände, in denen sie ihr Gesicht verbarg.
Das Herz drehte sich Mimmi im Leibe um. Sie wußte aber, daß es momentan falsch gewesen wäre, in Karin zu dringen. Das Kind mußte sich erst ausweinen. Mimmi setzte sich nur neben Karin auf die Couch und steckte ihr ihr Taschentuch zu, mit dem sie selbst zu jeder Zeit ausgestattet war, um es immer griffbereit zu haben, wenn Tragik in einem Roman zum Ausdruck kam.
Mimmi Fabrici verfügte neben literarischer auch über genügend Lebenserfahrung, um den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, zu dem es angebracht war, mit Karin das Gespräch wieder aufzunehmen.
»So«, sagte sie deshalb, als ihr Karin das eingenäßte Taschentuch mit Dank zurückgab, »nun sag mir, was dein Vater da verbockt hat.«
Karin hob den immer noch von einem Tränenschleier umflorten Blick.
»Vater?«
»Ja. Ich kann mir nur vorstellen, daß er da wieder in etwas hineingetrampelt ist wie ein Elefant.«
Karin schüttelte den Kopf.
»Nein, Mutti.«
»Nicht?« Großer Zweifel sättigte dieses Wort.
»Wirklich nicht, Mutti.«
»Dann möchte ich wissen, wer dir etwas angetan hat.«
»Ich mir selbst«, sagte Karin tonlos. Schon wollten ihre Lippen erneut zu zittern beginnen.
Mimmi ließ auch diesen gefährlichen Moment wieder vorübergehen, bis sie sagte: »Weißt du was, mein Kind? Du erzählst mir das alles, wenn du einmal Lust hast dazu. Das muß nicht jetzt sein. Ich weiß, solche Dinge brauchen ihre Zeit, bis sie in einem etwas abgeklungen sind. Dann spricht es sich wesentlich leichter über sie. Einverstanden?«
»Ja«, nickte Karin und umarmte ihre Mutter, drückte sich an sie, küßte sie.
Das war zuviel. Ganz plötzlich trat ein Rollentausch ein. Mimmi weinte, und Karin hatte alle Hände voll zu tun, ihre Mutter zu trösten. Als dies im vollen Gange war, trat überraschend Paul Fabrici ins Zimmer. Er hatte vom Geschäft heute ausnahmsweise schon zwei Stunden früher die Nase vollgehabt. Die Situation, die er antraf, entlockte ihm den Ausruf: »Was ist denn hier los?«
Mimmis Tränen regten ihn weniger auf als die adäquaten Spuren in Karins Gesicht.
»Karin«, fragte er, »fehlt dir etwas?«
»Nein, Vati.«
»Aber du hast geweint?«
»Schon vorbei. Nur Mutti weint noch.«
»Ich sehe es«, sagte er unbeeindruckt.
Zorn wallte in Mimmi auf.
»Aber es läßt dich kalt!« rief sie.
»Ich bin das doch gewöhnt von dir, wenn deine Nase in einem Buch steckt.«
»War das soeben der Fall?«
»Nein«, mußte er zugeben.
Dann trat er den Rückzug an, verließ den Raum und trank in seinem Arbeitszimmer einen Schluck aus der Whiskyflasche, die in seinem Schreibtisch neuerdings den Kognak verdrängt hatte. Auch eine Zigarre steckte er sich an. Als er schließlich ins Wohnzimmer zurückkam, saß Mimmi allein auf der Couch.
»Wo ist Karin?« fragte er.
»Sie wollte einen Brief schreiben.«
»Einen Brief schreiben«, mokierte sich Paul Fabrici. »Wer schreibt denn heutzutage noch einen Brief – außer Geschäftsbriefe? Nur wer nicht weiß, wohin mit seiner Zeit. Wozu gibt's Telefon?«
»Ach Paul«, seufzte Mimmi nur. Dies war kein Thema, über das mit ihm zu reden wäre.
Er war noch nicht fertig.
»Das ist ja das Übel mit Karin«, fuhr er fort. »Sie hat keine Beschäftigung. Deshalb meine ich, daß nun wirklich bald etwas in dieser Richtung geschehen muß. Sie soll wieder studieren oder, was mir noch lieber wäre, kaufmännisch etwas lernen.«
Paul verstummte und zog an seiner Zigarre. Mimmi äußerte sich nicht. Sie erhob sich, um einen Blick in die Fernsehzeitschrift zu werfen, die auf dem Apparat lag. Eine Weile hörte man nichts als das Rascheln der Seiten, die von Mimmi umgewendet wurden.
»Warum weinte sie?« unterbrach Paul die Stille.
Mimmi hob ihren Blick aus der Zeitschrift.
»Warum? Sie hat es mir nicht gesagt«, antwortete sie.
»Aber wie ich dich kenne, hast du eine Theorie.«
»Wenn ich keine hätte, müßte ich keine Mutter sein.«
»Also warum?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Ein Mann?«
»Was denn sonst!«
»Hier in Düsseldorf?«
»Nein.«
»Auf Nickeroog?«
»Ja.«
Paul Fabrici holte tief
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