Der Verhandlungs-Profi
dieselbe Situation noch einmal vor. Dieses Mal stehen Sie bereits 45 Minuten in der Schlange. Ein Mitarbeiter kommt heraus und sagt, die Wartezeit beträgt insgesamt eineinhalb Stunden. Nachdem Sie also schon 45 Minuten in der Schlange stehen, wird es für Sie nur noch weitere 45 Minuten dauern. Würden Sie jetzt in der Reihe stehenbleiben oder hinausgehen?
Die Studien zeigen mit deutlicher Klarheit, dass die meisten Menschen im Fall 1 aus der Reihe heraustreten und sich etwas anderes anschauen und im Fall 2 lieber stehenbleiben, um auch noch die anderen 45 Minuten zu warten. Und das, obwohl in beiden Fällen die Wartezeit identisch ist. Warum ist das so?
Nachdem Sie bereits 45 Minuten investiert haben, stehen Sie jetzt vor einem potenziellen Verlust, das heißt, wenn Sie jetzt gehen, haben Sie 45 Minuten verloren. Und genau das bewegt Sie dazu, zu sagen: „Okay, dann warte ich die weiteren 45 Minuten auch noch“ – obwohl es natürlich insgesamt keinen Unterschied macht.
Mit diesem Phänomen können Sie selbst aktiv in der Verhandlung arbeiten, wenn Sie zum Beispiel wissen, der andere hat schon sehr viel in eine Verhandlung investiert und wird diese kaum noch wegen einer Kleinigkeit zum Abbruch bringen. Das können Sie geschickt nutzen, um zum Beispiel in der Endphase der Verhandlung noch einige Forderungen zu stellen, begleitet von den Worten:
Schauen Sie, jetzt haben wir beide schon so viel investiert, jetzt werden Sie es doch nicht wegen dieser Kleinigkeit scheitern lassen.
Passen Sie umgekehrt auf, falls jemand das mit Ihnen macht. Es gibt Verhandler, die grundsätzlich bis zum Ende von Verhandlungen warten, um dem anderen dann noch ein, zwei Forderungen unterzujubeln. Sie wissen, dass diese Forderungen am Ende oft durchgehen, bevor der andere den Deal platzen lässt, in den schon so viel investiert wurde. Im Amerikanischen heißt das „Nibbling“, was übersetzt so viel bedeutet wie „Anknabbern“, er knabbert also am Ende noch an Ihren Verhandlungsergebnissen. Stellen Sie sich vor, das macht jemand aus Prinzip und ständig: Wie viel Zusatznutzen kann er im Laufe der Zeit einfahren, indem er immer wieder am Ende von Verhandlungen seine letzten – anscheinend so kleinen – Forderungen einbringt?
Wenn Sie wissen, dass Sie es mit einem Knabberer zu tun haben, können Sie eine ganz einfache vorbeugende Strategie anwenden: Halten Sie immer ein, zwei Zugeständnisse bis ganz am Ende zurück, möglichst kleine, die Ihnen nicht wehtun und die Sie ihm dann noch geben können. Wenn Sie Ihren Verhandlungspartner allerdings nicht kennen, Sie beide schon sehr viel Zeit in die Verhandlung investiert haben und er am Ende mit anscheinend kleinen Nachforderungen daherkommt, lehnen Sie diese Forderungen entschieden ab und weisen Sie darauf hin, dass Sie schließlich beide schon genug Zeit und Mühe investiert haben. Hilft dies nichts, nehmen Sie das altbewährte Give & Take zur Hand und holen sich im Gegenzug dazu ebenfalls noch ein bis zwei Zugeständnisse.
Nicht jede Vereinbarung ist eine gute Vereinbarung
Verhandler sind oft viel zu sehr darauf konzentriert, am Ende der Verhandlung ein Ja zu bekommen. Dieses Ja scheint der einzige Zweck zu sein, die Verhandlung überhaupt zu führen. Doch dabei vergessen sie nur zu gern die wesentlichen Details, die zu diesem Ja führen. Die große Gefahr ist, der Versuchung zu unterliegen, langfristige Prioritäten zugunsten kurzfristiger Gewinne aufzugeben.
TIPP
Immer dann, wenn eine Einigung nur mit aller Gewalt und auf Biegen und Brechen erzielt wird, prüfen Sie besonders aufmerksam, ob es sich eventuell um ein Scheinergebnis oder ein Ergebnis mit Sprengfallen handelt.
Wenn Sie selbst bemerken, dass Sie um ein positives Verhandlungsergebnis ringen, nehmen Sie Ihren ESP zur Hand, überprüfen Sie Ihre Ziele und Ihren Plan B. Widerstehen Sie der Versuchung, um jeden Preis eine Vereinbarung zu erlangen, denn manchmal ist es besser, eine Verhandlung nicht abzuschließen, als sie durchzudrücken. Mit anderen Worten: Oft ist ein Nein das bessere Ja.
Auch Nachverhandlungen können Werte schaffen
Die Horrorvorstellung jedes Verhandlers: Das Geschäft ist unter Dach und Fach, die Beziehung ist hervorragend, und Sie freuen sich auf den Beginn einer Zusammenarbeit … bis Sie drei Tage nach Vertragsabschluss von Ihrem Vertragspartner einen Anruf erhalten: „Ich habe noch einige Bedenken zu unserem Deal von vor drei Tagen und hätte da noch einen Vorschlag zu machen, wie wir ihn
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