Der verkaufte Patient
vielfältigen Verbindungen in die nationale und internationale Wirtschaft. Sie haben Modernität auf ihre Fahnen geschrieben, kommen auf der Bugwelle von Hightech, IT, Controlling, Kommunikation und Professionalisierung dahergeschwommen und sehen sich als Netzwerker eines neuen, marktorientiertenDenkens. Es sind Leute, die Vordenkern wie Roman Herzog, Graf Lambsdorff, Wolfgang Clement, Oswald Metzger und Roland Berger folgen. Rentner Romans Ruck-Runde, der »Konvent für Deutschland«, der das Wort Reform scheinbar für sich gepachtet hat, wird – ei, wer hätte das gedacht? – von zahlreichen Firmen gesponsert. Genauer besehen, handelt es sich bei den eben erwähnten selbsternannten Hoffnungsträgern für einen »Ruck in Deutschland« weniger um
Vor-
als um
Vorstandsdenker
, wie sich per Internet leicht nachprüfen lässt. Ihre Jünger im Parlament eifern ihnen nach in der Kunst des Nebelkerzenwerfens und der allseitigen Vernetzung und Verfilzung.
Solidarität ade!
Politiker erweisen sich als willfährige Erfüllungsgehilfen einer Herrschaft des Vermögens und der Vermögenden. Sie sagen sich: Stärken stärken! – Was im Management richtig ist, kann im Staat so falsch nicht sein. Und so stärken sie die Starken und schaffen sich die Schwachen vom Hals und aus der Bilanz. Schon darf ein Peer Steinbrück sagen: »Soziale Gerechtigkeit [!] muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.«
Diesen letzten Satz muss man zweimal lesen. Seit wann besteht eine Gesellschaft nur aus umtriebigen Startuplern, knackigen Leistungsträgern und geldschweren Investoren? Welchen Sinn hat das Wort »sozial« in unserem Staat, wenn es dort nicht um die
andere
Hälfte der Welt geht – diejenige, die vom Archipel des Bruttosozialprodukts her nicht sichtbarist:die Welt der behinderten Menschen, der Kinder, der Alten, der Kranken, Gebrochenen und Gescheiterten? Ein Staat erweist seine humane Qualität gerade an ihren schwächsten Gliedern. Hätte doch Steinbrück gesagt: »Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern«, als er seinen denkwürdigen Versuch unternahm, »soziale Gerechtigkeit« zu definieren!
»Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer und demokratischer Bundesstaat«, heißt es lapidar in § 20 unseres Grundgesetzes. Das Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip erschien den Müttern und Vätern unserer Verfassung als ein so zentrales Verfassungsziel, dass es neben der umfassenden Garantie der Menschenwürde und der Menschenrechte durch die sogenannte Ewigkeitsklausel (§ 77 Abs. 3 GG) geschützt wurde: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden,
ist unzulässig
.« Die Erfahrung der Nazi-Jahre, in denen der Staat von Verbrechern okkupiert, die staatlichen Organe von demokratischer Legitimierung abgekoppelt und rechtsstaatlicher Kontrolle entzogen wurden, ließ die Gründer unserer Republik zu diesem äußersten verfassunggebenden Mittel greifen.
Von den Starken und den Schwachen im Staat
Ich liebe es, mir die Grundlagen von Staat und Gesellschaft in der denkbar einfachsten (idealen) Form zurechtzulegen, um in der fast unüberschaubaren Gemengelage der Kräfte und Institutionen noch zu verstehen, wozu ein Staat, ein
guter
Staat, überhaupt da ist. Wären wir lauter Einzelne, keiner von uns hätte die Kraft, die großen, allen nützlichen Dinge des Gemeinwohls zu vollbringen. Der Einzelne kann keine Schuleeröffnen und keine Klinik begründen; er kann sich keine Flugabwehrraketen in den Garten stellen, er kann keine Straßen, keine Kraftwerke bauen und keine Energie garantieren, und er kann auch nicht Kommunikationswege eröffnen und sichern. Keiner hätte den Schutz, den er braucht, um Leben, Recht und Eigentum zu behalten. Der nächstbeste Stärkere (oder auch nur eine Zusammenrottung von Stärkeren) käme und brächte uns um Leben und Besitz. Allein ist man den Wechselfällen des Lebens ausgesetzt, von denen keiner verschont bleibt – irgendwann ist jeder einmal schwach, krank, hilfsbedürftig, er
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