Der verkaufte Patient
Sozialleistungskosten; als Mittel gegen Massenarbeitslosigkeit wollte man die (wie man heute sagen würde) Verringerung der »gesetzlichen Lohnnebenkosten«; es ging um die Schaffung »möglichst günstiger Investitionsbedingungen«; Unternehmen bräuchten eine »Verbesserung der Ertragsbedingungen« und »in besonderen Fällen auch gezielte Hilfe«; öffentliche Ausgaben sollten von »konsumtiver zu investiver Verwendung« umstrukturiert werden; soziale Sicherungssysteme müssten »an die veränderten Wachstumsmöglichkeiten« angepasst und »der Eigeninitiativeund der Selbstvorsorge wieder größerer Raum« gegeben werden; die Rede ist erstmals von der »stärkeren Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen«, und selbst die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre finden wir schon bei Lambsdorff/Schlecht/Tietmeyer.
Das Lambsdorff-Papier, das detailgenau den Abbau des Elementes Solidarität im Staat beschreibt und die gleichzeitige »Vermarktung« des Staates vorzeichnet, wie sie die Regierungen Helmut Kohl und Gerhard Schröder auf den Weg brachten, wollte Helmut Schmidt nicht mittragen: »Sie [die FDP] will in der Tat eine Wende, und zwar eine Abwendung vom demokratischen Sozialstaat im Sinne des Artikels 20 unseres Grundgesetzes und eine Hinwendung zur Ellenbogengesellschaft.« Es kam zum Bruch. Schmidt musste als Kanzler abdanken. Die FDP wechselte die Seiten. Eine neue Ära konnte beginnen.
Welchen Staat wollen wir?
Merkwürdigerweise ist der Ausverkauf des Staates an die »Zusammenrottungen von Stärkeren«, die Auslieferung wichtiger Funktionen des Staates an den Markt zwar mit einem grassierenden Verlust an Vertrauen in die Politik und einem echten, aber nicht eingestandenen Verlust an Legitimation der Regierenden verbunden, nicht aber mit einem wirklichen Verlust an staatlicher Präsenz. So hilflos der Staat angesichts echter Probleme und so schwach er in seinen Leistungen geworden ist, so gnadenlos fungiert er als Steuerjäger, Bürokrat, Bildungsarchitekt, Spitzel und Geldeintreiber. Christoph Butterwegge ist es, der die Kehrseite eines Staates beschreibt, der sich nicht mehr schützend vor die Schwächeren stellt: »Je weniger großzügig die Sozialleistungen einer reichen Gesellschaft ausfallen, umso schlagkräftiger muss in der Regel ihr Sicherheits- beziehungsweise Gewaltapparat sein.« Andersgesagt: Was die Parlamentsmehrheit den Wohlfahrtssystemen an Ressourcen entzieht, wendet sie später für Maßnahmen gegen Drogenmissbrauch, Kriminalität und Gewalt auf. Justiz, Polizei und private Sicherheitsdienste verschlingen jenes Geld, das beim Um- beziehungsweise Abbau des Sozialstaates vorgeblich »eingespart« wird.
Warum ich auf diese Dinge hinweise? Weil ich mich schäme für einen Staat, der sich künstlich »schwach« macht, um den Falschen die Macht im Land zu überlassen. Weil ich mich schäme für einen Staat, der seine wesentlichen Akte nicht mehr demokratisch legitimiert. Weil ich mich schäme für einen Staat, der durch Korruption, Lüge und Betrug Stück um Stück das Vertrauen seiner Bürger verspielt. Weil ich mich schäme für einen Staat, der – statt selbst zu führen – sich von konzerngesteuerten Beratern und »Experten« führen lässt wie ein Ochse am Nasenring. Weil ich mich schäme für einen Staat, der das Grundgesetz vergisst und die Würde des Menschen mit Füßen tritt. Weil ich mich schäme für einen Staat, der seine Bürger nicht mehr vor Plünderung schützt, sie unter der Hand sogar an die Haie ausliefert. Weil ich mich schäme für einen Staat, der mich wie ein Wegelagerer erpresst, der mich abzockt und ausnimmt und der nichts für mich tut. Weil ich mich schäme für einen Staat, der die Alten gegen die Jungen und die Gesunden gegen die Kranken ausspielt. Weil ich mich schäme für einen Staat, der an seinen schwächsten Gliedern spart – den Kindern, den alten Menschen, den Arbeitslosen.
Natürlich weiß ich: Der Staat sind wir alle. Und doch hat sich in mir ein Wandel vollzogen, den ich selbst kaum verstehe. Ich habe diese Land geliebt und war stolz auf seine Demokratie. Ich habe leidenschaftlich gerne gewählt, weil ich glaubte, mit meiner Stimme etwas bewegen zu können. Ich habe mich mit diesem Land identifiziert und habe mich aus Dankbarkeit, auch einfach weil ich es gut fand, sozial engagiert. Aber nun fühle ich mich von den »Machern« in diesenLand – seien sie nun gewählt oder nur in Bürokratien hinzugewuchert – nicht mehr vertreten. Jemand sagte:
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