Der verkaufte Patient
verunglückt, ihm brennt das Haus ab, kurz: Er ist auf Hilfe angewiesen. Dann ist es gut, dass es nicht nur Nachbarn und Freunde, sondern den (sozialen) Staat gibt. Erst in der Gemeinschaft können die Risiken begrenzt werden. So sind es die vielen Einzelnen, die sich zusammentun und ein Stück ihrer eigenen Macht auf jemand übertragen, der, mit der Macht der vielen ausgestattet, dem Recht Geltung verschaffen und den berechtigten Sicherheits- und Versorgungswünschen der Bürger gerecht werden kann.
Ihr habt die Macht nur geliehen!
»Alle Macht geht vom Volke aus«, heißt der zentrale § 20 des Grundgesetzes. Und so übertragen Bürger Vertrauen und Macht auf den Staat, damit er die Dinge tut, die den Einzelnen überfordern würden. Das Wesen staatlicher Macht ist, dass sie
geliehen
wird. Ginge sie in den Besitz des Staates über, könnte er damit tun und lassen, was er will. Wir wären bei der Tyrannei …
Und hier sind wir nun am kritischen Punkt, an dem sich jetzt gerade, in diesem Moment, das Unerhörte ereignet. Der Staat kassiert zwar den Machtübertrag von den Bürgern, d. h., er leiht sich die Macht. Aber er leiht sie nicht, um damit selbst für die Bürger zu arbeiten. Er tut etwas, das durch keinendemokratischen Prozess legitimiert ist. Er verkauft die nur geliehene, die ihm gar nicht gehörende Macht. Er »privatisiert«. Er gibt Macht an interessierte Dritte ab – an Investoren, Konzerne, jedenfalls an »Zusammenrottungen von Stärkeren«, die so tun, als seien sie imstande, die Aufgaben des Staates sachgerechter, professioneller, schneller, günstiger zu erfüllen. Wo die Not am größten ist, naht das Rettende auch. Die bedrängte Politik ist heilfroh, dass ihr jemand die Probleme vom Hals schaffen möchte – sie entledigt sich aller nur denkbaren Aufgaben. Am liebsten würde sie auch noch die Verteidigung an die Wach- und Schließgesellschaft verhökern. Selbstlos bemühte sich Gazprom um die Übernahme von deutschen Stadtwerken, vermutlich eine Anregung von Gerhard Schröder, der aber die Rechnung nicht persönlich ausstellt.
Etwas aus der Höhe betrachtet, passiert also Folgendes: Bürger »erfinden« den Staat und bündeln bei ihm Macht, damit die Einzelnen von den »Zusammenrottungen der Stärkeren« geschützt werden. Statt dass der Staat aber seine Pflicht erfüllt und mit verantworteter Macht schützt und arbeitet, verhökert er sie an die Retter – eben an jene »Zusammenrottungen von Stärkeren«, vor denen die Bürger beim Staat gerade Zuflucht suchten. Bildlich gesprochen: Das neoliberale Staatskonzept ist wie die Feuerwehr, die ihren Gründungszweck – das Löschen – den Brandstiftern überträgt, weil sie die Brandursachen sofort checken, die Brandherde besser kennen und im Benchmarking immer schon vor der Feuerwehr da waren.
Nun könnte sich der Bürger sagen: Brauche ich dazu den Staat? Dass er für vermeintliche Staatsaufgaben wie Bildung, Gesundheit, Alter, Infrastruktur unglaubliche Summen kassiert, ein Rumpfangebot an Leistung garantiert und dann noch privatisiert? Eltern fragen sich: Wozu kassiert der Staat Geld für ein verlottertes Bildungssystem, wenn ich noch einmal draufzahlen muss, damit mein Kind wirklich etwas lernt?
Patienten fragen sich: Wieso unterhält der Staat ein Gesundheitssystem, wenn ich mit einem Kostenvoranschlag vom Zahnarzt nach Hause gehe? Rentner fragen sich: Was hätte ich heute für eine Rente, hätte ich das schöne Geld unters Kopfkissen legen dürfen, statt es dem Staat überantworten zu müssen!?
Bittere Früchte
Die bitteren Früchte, die wir gerade ernten, stammen von einem Baum, der ziemlich genau ein Vierteljahrhundert alt ist. Gepflanzt hat ihn der bekannte Graf Lambsdorff. 1982 war er es, der ein Papier entwickelte, das zum Sprengstoff für die Regierung Schmidt und zur Gründungsurkunde einer neuen Politik wurde. Der Kölner Soziologe Christoph Butterwegge sieht in dem Positionspapier »Konzept für eine Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit«, das Lambsdorff zusammen mit dem damaligen Staatssekretär Otto Schlecht und dem nachmaligen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer verfasste, »das Drehbuch für die Regierungspolitik bis heute«. In der Tat finden sich darin bis heute alle nur denkbaren Grausamkeiten, die uns mittlerweile geläufig geworden sind. Da geht es um »eine relative Verbilligung des Faktors Arbeit«, was erreicht werden soll durch Senkung der
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