Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
Vom Netzwerk:
Tunesien – da musste ich anders ansetzen, als wenn sie sich die Angina bei ALDI an der Kasse geholt hätte.
    Sagen wir nun, unser Arzt hat alles beisammen; er kann beispielsweise gut begründen, warum diese oder jene Sondereffekte gegeben waren und warum dieser oder jener Patient weitere Krankengymnastik nötig hatte. Er kann sogar nachweisen, dass er durch kluge Maßnahmen Krankenhauseinweisungen vermieden und Krankentage reduzieren konnte. Er schickt das alles ein, atmet auf und hofft, dass jeder vernünftige Mensch seiner Argumentation folgen müsse: Wir leben ja schließlich in einem Rechtsstaat. Er staunt nicht schlecht, als er wenig später einen Regressbescheid in der Post hat über (sagen wir einmal) 35 000 Euro. Nanu – so schnell geht das? Er telefoniert bei Kollegen herum und stellt fest: Vielen Kollegen ging es nicht anders. Messerscharf schließt unser Arzt: Die Prüfkommission muss ja wahre Berge von Dokumentationen durchgearbeitet haben! Das kommt ihm »spanisch« vor. Hunderte von Ärzten haben wochenlang an Dokumentationen gearbeitet – und nun kommen die Bescheide so schnell zurück.
    Das, lieber Leser, ist keine Fiktion. Im Jahr 2005 (die Dokumente liegen mir vor) erfuhren betroffene Ärzte von der Kammer in der Region M., dass ca. 350 Regressbescheide von der zuständigen Prüfungskommission an zwei Nachmittagen in je 3–3,5 Stunden durchgezogen wurden. Jetzt muss man nur hochrechnen: Da blieben wohl pro Bescheid gerade mal 1 bis 2 Minuten. Mit anderen Worten: Die ärztliche Existenzen bedrohenden Zahlungsforderungen wurden im Affenzahn durchgehechelt. Bestätigt wurde diese Praxis durch eine Zeugenaussage. Der Prüfungsvorsitzende antwortete einem Arzt auf die Frage nach dem Verhältnis von Zeitrahmen und zu prüfender Materie: Man habe ja auch nicht »geprüft«, sondern nur unterschrieben …
    Kehren wir zu unserem Beispiel zurück: Bei der nächsten Abschlagszahlung packt unseren Arzt das schiere Grausen. Die Regressforderung ist einfach von der fälligen Abschlagszahlung abgezogen worden. Wie bitte? Wie soll er denn die laufenden Kosten decken? Eine Nachfrage bei der Kassenärztlichen Vereinigung ergibt: »Sie können ja klagen!« Der Marathon, auf den sich der Arzt nun einlässt, ist vielfach dokumentiert: Er dauert Jahre und beschäftigt teuer zu bezahlende Anwälte. Wundert sich jetzt noch jemand, wenn freie, niedergelassene Ärzte sich statt in einem Rechtsstaat wie in einer Bananenrepublik vorkommen?
Exzesse der Gnadenlosigkeit
     
    Wenn es zu Regressforderungen kommt, geht es immer häufiger um Kopf und Kragen unserer Ärzte. Derzeit wollen die Kassen ca. 50 Millionen Euro von ca. 2000 niedergelassenen Ärzten in Bayern eintreiben. Das bedeutet: Etwa 2000 Ärzte in Bayern stehen mit durchschnittlich 25 000 Euro in der Kreide – bei manchen beläuft es sich auf über 100 000 Euro, bei anderen ist es weniger. Stellen Sie sich einmal vor, einArzt hat überdurchschnittlich viele ältere, chronisch kranke und schwerkranke Patienten – soll ja vorkommen. Er wird dafür bestraft. Mir liegen die sich häufenden Fälle vor, in denen Patienten an der Infotheke eines niedergelassenen Arztes abgewiesen wurden – aus reiner Verzweiflung. Im Fränkischen wurde eine Praxis mit existenzbedrohenden Regressforderungen für das Jahr 2002 bedacht, obwohl bekannt war, dass die Praxisgemeinschaft Heime mit insgesamt 500 Schwerstbehinderten betreut. Zu welchen Exzessen bürokratischer Gnadenlosigkeit die Regress-Strategie der Kassenärztlichen Vereinigungen führt, zeigt auch ein Fall aus dem Schwäbischen. Ein Hausarzt wurde als Beifahrer bei einem Notarzteinsatz in einen Unfall verwickelt und erlitt dabei so schwere Kopfverletzungen, dass er seine Praxis nicht weiterführen konnte. Eine Kollegin aus der Klinik vertrat den armen Mann, bis klar wurde: Er würde niemals wieder als Hausarzt tätig sein können. Die Tragödie wurde zur empörenden Farce, als der berufsunfähige Arzt zu allem Leid auch noch mit happigen Regressforderungen bedacht wurde. Der vertretenden Kollegin waren die »Richtgrößen« nicht bekannt gewesen. Sie hatte einfach verordnet, was ihr angemessen erschien. Die Praxis musste mit Verlust verkauft werden, weil natürlich die Patientenzahl sprunghaft zurückgegangen war – und die Regressforderungen kamen noch obendrauf.
    Und so kommt es zu der absurden Situation, dass ein ganz normaler Hausarzt mit Regressforderungen im Rücken nicht noch einen Patienten annehmen kann, der

Weitere Kostenlose Bücher