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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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(Silke Lüder). Statt ein Leiden differenziert zu diagnostizieren und spezifisch zu therapieren, muss er vor allem darauf achten, die Anzahl seiner »Pünktchen« nicht zu überschreiten. Vor dem Arzt sitzt nicht mehr ein Individuum mit individuellen Beschwerden; hier sitzt ein »Fall« für die »Fallpauschale«. Das System zwingt den Arzt, den Patienten nach Schema F zu behandeln, will er sich nicht der Gefahr aussetzen, Jahre später für diese Behandlung bestraft zu werden.
    Wer hat sich das ausgedacht? Wer will, dass ein Arzt nicht mehr Arzt, sondern Erbsenzähler ist? In einen »Gesundheitsautomaten« habe ich kein Vertrauen. Denn: 1. Der Arzt hat keine Freude mehr an seinem Beruf, weil ihm ein bürokratisches Korsett aufgezwungen ist, das ihn im Kern seines
Arztseins
aushebelt. 2. Der Patient wird misstrauisch, weil er die Hintergründe seiner Fließbandabfertigung nicht kennt. 3. Der Arzt wird zum verlängerten Arm des Apparats; von Therapiefreiheit kann nicht mehr die Rede sein. 4. Die Reputation des freien, niedergelassenen Arztes wird zerstört und medial unterminiert, und die Industrialisierung der Medizin wird vorbereitet, indem die üblichen Verdächtigen heuchlerisch nach höheren Standards und Qualitätssicherung schreien. Das Wort »Qualitätssicherung« kann ich im Zusammenhang mit Ärzten nicht mehr hören. Es ist eine Waffe, ein U-Boot für die Machtübernahme durch die Gesundheitsindustrie.
Mit Regressen in den Ruin!
     
    Kommen wir auf den Regress zu sprechen. Der Regress ist die Folge einer Wirtschaftlichkeitsprüfung, nämlich eine Rückforderungseitens der KV und der Kassen an den Arzt für erbrachte Leistungen am Patienten. Nehmen wir ein Beispiel: Sagen wir, ich gehe im Frühling 2004 wegen Halsschmerzen zu einem Arzt. Er untersucht mich und stellt als Diagnose fest: Angina. Er verordnet mir ein Antibiotikum. Mein Budget ist allerdings aufgebraucht, denn ich war im fraglichen Quartal bereits zweimal bei diesem Arzt. Einmal hatte ich Magenprobleme, das andere Mal hatte mich ein grippaler Infekt erwischt. Was ich nicht weiß: Angina darf ich in diesem Quartal nicht mehr haben. Darf ich nach den Gesetzen der Kassenärztlichen Vereinigung in diesem Quartal überhaupt noch krank werden? Keine Ahnung. Es ist jedenfalls schlimm für meinen Arzt, der micht trotzdem behandelt. Denn meine Angina aus dem Frühjahr 2004 holt ihn Jahre später wieder ein – in Form von Regressansprüchen.
    Das geht konkret so: Ein »Prüfarzt« von der Kassenärztlichen Vereinigung hat nämlich meine unerlaubte Angina entdeckt und meine Behandlung moniert – zusätzlich noch die unerlaubten Knieprobleme von Frau Müller, die überzogene Sterbebegleitung für Opa Meyer und die Hilfsmittel für Christian, das Kind mit dem offenen Rücken. Dazu kommt die Überbetreuung einiger chronisch Kranker: Diabetiker, Herzkranke, Asthmatiker, Rheumakranke. Dummerweise hatte im Jahr 2004 der grippale Infekt nicht nur mich, sondern die halbe Stadt erwischt, obwohl es die Kassenärztliche Vereinigung nicht in der Planung hatte. Da kommt was zusammen. Der Arzt bekommt also Post von der KV; sie teilt dem Arzt mit, dass gegen ihn eine Wirtschaftlichkeitsprüfung in Gang gesetzt ist, die ihrerseits eine Regressforderung nach sich zieht. Ihm wird mitgeteilt, dass er beispielsweise auf 154 % statt auf 100 % der Richtwerte bei den zulässigen Verordnungen gekommen ist. – Das heißt: Er hat sein Budget um 54 % überzogen. Womit, wird nicht mitgesagt, auf Nachfrage auch nicht mitgeteilt. Ab jetzt regiert die Angst.
    Wenn die Regressforderung eintrifft, hat der Arzt vier WochenZeit, jede im Frühjahr 2004 gemachte und inkriminierte Einzelverordnung zu begründen. Der Arzt fasst sich an den Kopf: Das ist doch Jahre her! Nackte Panik überfällt ihn. Die Praxis wird auf den Kopf gestellt, am besten gleich »krankheitshalber« geschlossen. Von nun an wird Tag und Nacht gearbeitet! Haben der Arzt und sein Helferteam erst einmal die komplizierte Darstellung der angeblichen Verstöße erfasst und zugeordnet, wird das Unterste zuoberst gekehrt, Krankenakten werden gewälzt, Hunderte von Rezepten gecheckt, in den Tiefen der Erinnerung gegraben, um nur ja die Notwendigkeit der Indikationen in 2004 gegenüber den Prüfärzten zu dokumentieren. Jetzt beißt sich die Katze in den Schwanz. Hätte er das Ganze per Videokamera festgehalten oder hätte er wenigstens noch seine gute alte Karteikarte, dann könnte er leicht feststellen: Aha, die Frau war in

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