Der verkaufte Patient
Längst steuern nicht mehr Regierung und Parlament unser Gesundheitswesen, sondern ein machtvolles Netzwerk von Experten, Beratern und heimlichen Profiteuren des großen Umbaus. Oft werde ich gefragt: Warum spielen die Politiker dieses Spiel denn mit? Ich versuche das immer so zu erklären: Wenn heute ein junger, idealistisch gesinnter Abgeordneter nach Berlin geht und sich der Gesundheitspolitik widmet, findet er sich wieder in einem Dschungel aus Bürokratien und Expertokratien, aus internen und externen Vorgaben, aus geltenden Vorentscheidungen, mehr oder weniger berechtigten Ansprüchen, gewachsenen Abhängigkeiten, Parteidisziplinen und traditionellen Rücksichten, kurz: ein Dschungel, in dem er sich ohnmächtig und unwissend vorkommt. Täglich ist er mit Menschen zusammen, die weniger das Gemeinwohl als vielmehr die eigenen Interessen im Blick haben. Unsere derzeit 612 vom Volk gewählten Abgeordneten des Bundestages sind umstellt von der etwa dreifachen Anzahl von Lobbyisten. Diese cleveren Funktionäre wiederum werden in den meisten Fällen hoch dotiert und sind glänzend ausgebildet, und sie stehen unter einem ungeheuren Druck. Ihre Unternehmen erwarten, dass sie politische Entscheidungen im Sinne dieser Unternehmen beeinflussen. Entweder sie schaffen das und gewinnen Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern und Einfluss auf ihre Entscheidungen, oder sie werden ausgetauscht. Das muss nicht einmal zu Bestechung führen (obwohl auch das nicht auszuschließen ist). Unser Abgeordneter, der mit viel Idealismus gestartet ist, kann nicht abschätzen, ob die ihm angeratenen komplizierten Maßnahmen tatsächlich greifen oder ob sie nicht doch nur geschickt kaschierte Partikularinteressen sind. Er findet sich in einem tausendfach verknüpften Netz wieder, in dem jede Lösung eines Knotens von den Betroffenen zum Skandal stilisiert wird. Und als Neuling auf dem politischen Parkett hat er schon gar nicht die Macht, den gordischenKnoten mit einem Schlag zu durchtrennen. Hatte er am Anfang noch das Gefühl, es ginge um sehr viel Gesundheit, so gewinnt er bald den Eindruck: Es geht um sehr viel Geld, und das ausschließlich.
Veräußerliches und Unveräußerliches
In der klassischen Lehre über den Staat und seine Zwecke kannte man gewisse
notwendige
Funktionen, die von den Bürgern an den Staat übertragen werden – Dinge, die nur der Staat kann, worin er durch Dritte (Einzelne, Firmen, Gemeinschaften) nicht ersetzbar ist und die er folglich auch nicht delegieren kann. Es gibt Grundbedürfnisse an Rechten und rechtlichen Grundstrukturen, der kollektiven Durchsetzung von Werten, dem Schutz von Gütern usw., für deren Erlangung und Sicherung
der Staat
einstehen muss. Es kann beispielsweise nicht sein, dass ein Monopolist alles Getreide aufkauft und nur demjenigen Marktzugang gewährt, dem er Brot verkaufen will oder der bereit ist, seinen Preis zu zahlen. Auch Verteidigung ist eine solche Staatsaufgabe. Nur in Bananenrepubliken kann sich jeder seine Privatarmee aufstellen. Die solidarische Alterssicherung erschien (kann man nun schon fast sagen) als eine solche Aufgabe. Verkehr, Bildung, Kommunikation, Energieversorgung gehörten dazu – und eben auch die Gesundheit. Gesundheit – dachte man – kann nicht das Privileg weniger sein. Sie darf so wenig teuer und exklusiv werden, wie Brot teuer und exklusiv werden darf. Auf eine gesundheitliche Grundversorgung haben alle ein Recht.
Es kann nicht alles der renditeorientierten Ausschöpfung überlassen werden – ein Umstand, auf den ein Mann immer wieder hingewiesen hat, der von Haus aus Sozialphilosoph war und später Papst wurde: Johannes Paul II. In vielerlei Hinsicht, meinte er, scheine »
der freie Markt
das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die besteBefriedigung der Bedürfnisse zu sein. Das gilt allerdings nur für jene Bedürfnisse, die ›bezahlbar‹ sind, die über eine Kaufkraft verfügen, und für jene Ressourcen, die ›verkäuflich‹ sind und damit einen angemessenen Preis erzielen können. Es gibt aber unzählige menschliche Bedürfnisse, die keinen Zugang zum Markt haben. Es ist strenge Pflicht der Gerechtigkeit und der Wahrheit, zu verhindern, dass die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben und dass die davon betroffenen Menschen zugrunde gehen. … Noch vor der Logik des Austausches gleicher Werte und der für sie wesentlichen Formen der Gerechtigkeit gibt es
etwas, das dem Menschen als
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