Der verkaufte Patient
bei dem man sogar in Sucht- und Ehefragen Hilfe fand? Hat er nicht im Interesse des Patienten den Vermittler zur Krankenkasse gespielt?
Ein Funktionär – nein, ein
Führungsoffizier
soll ihn ersetzen. Wir sollen nämlich nicht beraten und betreut – wir sollen gegängelt und ferngesteuert werden. Erst darf sich ein undurchsichtiges System heimlich vernetzter Abzockanstalten breitmachen – und wenn keiner (außer den Architekten dieser Komplexität) mehr versteht, wozu was da ist, wird der Fremdenführer namens
Case Manager
eingeflogen, der uns fürsorglich von Entgeldung zu Entgeldung begleitet. Falls wir aber kein Geld haben (oder vielleicht ernsthaft krank sind), gibt er auch noch den Rambo, der uns arrogant abblitzen lässt am Portal, das in die schöne neue Welt der Gesundheit führt.
Tante Ella und das System
Ich möchte das heraufziehende System erklären, und ich möchte es so simpel und plastisch erklären, dass jedermanndurch den Dschungel der schönen neuen Gesundheitswelt findet. Wie würde ich Tante Ella erklären, was gerade geschieht? Ich würde sagen:
In ein paar Jahren, Tante Ella, wird es in deinem Dorf keinen Arzt mehr geben. Wenn es dir schlechtgeht, hast du ein Telefon. Am anderen Ende sitzt der Automat vom Callcenter. Er beglückwünscht dich zunächst, dass du zu den Menschen gehörst, die am erfolgreichen Selbstmanagement ihrer Erkrankung mitarbeiten. Dann sagt die Stimme: »Wenn Sie Beschwerden im Kopf haben, drücken Sie die 1 … Sie haben die 1 gedrückt – Wenn Sie nun Beschwerden im Hinterkopf haben, drücken Sie die 4. Sind Ihre Beschwerden aber im Vorderkopf, drücken Sie die 7. Sie können übrigens durch Drücken der Ziffer 999 immer wieder in das Menü zurück …« Wenn du Glück hast, wirst du auch mit einem echten Menschen verbunden. Er sitzt vielleicht in Frankfurt an der Oder, vielleicht aber auch in Tschechien. Das ist aber nicht wichtig, sofern er deutsch spricht und dich mit einem Case Manager verbindet. Der übernimmt deinen Fall.
Ihm darfst du die Nummer auf deiner Gesundheitskarte sagen. Der Case Manager klickt sich in die Datenbank ein, in der es dich als »gläsernen Menschen« gibt – d. h., alles, was mit dir gesundheitlich unternommen wurde, findet sich erfasst, alle deine persönlichen Daten, deine Kassendaten, deine Lebenssituation.
Möglicherweise, Tante Ella, ist der Case Manager sehr nett zu dir. Aber du solltest doch wissen: Wie nett er auch immer ist – er ist in erster Linie der Angestellte eines
Unternehmens!
Er arbeitet für das Unternehmen, er folgt den Weisungen des Unternehmens, er schaut auf den Erfolg des Unternehmens. Sonst fliegt er nämlich raus (und es gibt viele, die gern seinen Job als Case Manager haben möchten). Dieser Case Manager sitzt in einem »Medizinischen Versorgungszentrum« (MVZ) in der nächstgrößeren Stadt, und dieses MVZ, das so offiziell aussieht wie ein Landratsamt, ist keineswegs eine staatlicheoder behördliche Einrichtung, sondern gehört – erfinden wir mal was – der Firma HEALTHY-POP-WEALTHY.
Nehmen wir einmal an, der Case Manager hat, nachdem er sich deine Wehwehchen angehört und einen Blick auf deinen Punktestand geworfen hat, den Eindruck, du solltest mal ins MVZ kommen, dann ruft er – nett, wie er ist – eine Ambulanz, die dich da hinfährt. Was du nicht wissen kannst: Natürlich ruft er nicht irgendeine Ambulanz an, sondern eine der vielen HEALTHY-POP-WEALTHY-Partnerfirmen oder HPW-Tochterunternehmen, in diesem Fall die Firma SANA-ZACK-MOBIL.
Wenn du dann zum MVZ kommst, Tante Ella, findest du viele Ärzte und Diagnoseeinrichtungen in einem Haus versammelt, und du denkst dir: »Fein, dann muss ich nicht so viel laufen. Die checken mich durch und schicken mich gleich zum Spezialisten, und ich kriege die optimale Behandlung.« Leider ist es nicht ganz so. Der Arzt, der dich anschaut, hat ein Käppi auf. Die drei dekorativen Buchstaben HPW verraten dir: Das ist ein HEALTHY-POP-WEALTHY-Arzt – gut ausgebildet, aber miserabel bezahlt. Er ist nicht etwa frei und unabhängig in seinem Rat und seinen Entscheidungen. Er denkt nur für seine Firma – und die will Geld verdienen. Er will auch Geld verdienen, er hat nämlich ein Grundgehalt und bekommt eine Erfolgsbeteiligung.
Deshalb schaut er länger auf die Daten deiner Gesundheitskarte als dir in den Rachen. Als ehemaliger freier Arzt weiß er zwar, »dass für 90 Prozent aller Diagnosen eine ausführliche Krankenbefragung und die körperliche
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