Der verletzte Mensch (German Edition)
Kultur ganz verschiedenen Kategorien zuordnen. In Wirklichkeit leben und sterben wir gleichzeitig. Durchschnittlich lebt eine menschliche Zelle sieben Jahre, das heißt, dass wir uns mit 70 Jahren zehn Mal fast komplett erneuert haben. Übrig bleibt das Selbst, es ist die Waffe gegen die Vergänglichkeit. Nach Milton Erickson sollte die letzte Lebensphase einem Versöhnungsprozess mit dem eigenen Leben dienen. Wissend, dass wir alle einmal in diese Situation kommen werden, sollte gerade unsere finanziell so reiche Gesellschaft menschlich weniger arm mit dem Thema Altern und Sterben umgehen. Positive Beispiele gibt es Gott sei Dank genug. Den letzten Weg kann jeder Mensch nur allein gehen. Schön wäre es, wenn viele davon die Worte von Hermann Hesse in ihrem Herzen spüren könnten:
„Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Täuschungen und Illusionen
Was Seminare, Do-it-yourself-Heilslehren und Reisen wirklich bringen
„Viele Menschen suchen nach dem Glück wie ein Betrunkener nach seinem Haus. Sie können es nicht finden, aber sie wissen, dass es existiert.“
Voltaire
Gerade wenn wir verletzt wurden, wenn wir eine Niederlage erlitten haben, nach Trennungen oder bei schweren Krankheiten suchen wir nach Sinn und Orientierung. In jeder Zeit hat es Menschen gegeben, die mehr als andere gewusst haben. Schamanen, Propheten, Magier, Hohepriester, Alchemisten, Mönche, Philosophen, Naturwissenschaftler und andere Gurus haben versucht, die Gesetze des Kosmos und der menschlichen Seele zu entschlüsseln. Es gibt aber gute Gründe, warum die Kirchen und die buddhistischen Klöster ihre Priester und Mönche sorgfältig ausgewählt und sehr lange auf ihre Aufgabe vorbereitet haben. Und auch die Suche des Schülers nach dem richtigen Guru nahm oft viel Zeit in Anspruch. Hatte man diesen endlich gefunden, dann erfolgte meist die brüske Zurückweisung durch diesen, um die Ernsthaftigkeit des Schülers zu prüfen. Guru bedeutet ursprünglich „kostbarer Lehrer“.
Heute ist es viel einfacher, einen Guru zu finden. Abgewiesen wird man mit Sicherheit nicht, dazu ist der ökonomische Konkurrenzkampf zwischen den Lebensberatern, Therapeuten und Seminaranbietern viel zu groß. Nur auf viele Gurus trifft mittlerweile eher die Definition von Peter Drucker zu, der einmal gesagt hat, dass man deshalb so gerne von Gurus rede, weil das Wort Scharlatan zu lang sei und die meisten auch nicht genau wüssten, wie man es schreibt. Und so wurden die Priester und weisen Meister immer mehr durch Do-it-yourself-Anbieter ersetzt. Das explodierende Selbstverwirklichungsgewerbe bietet Konzepte zur Heilung und Selbstfindung an wie Baumärkte Gartenhäuser zum Selbstbauen – sofortige Erleuchtung inklusive Mehrwertsteuer. [38]
Wir westlichen Menschen suchen gerne die Abkürzung zum Glück und zur Heilung. Wo Nachfrage existiert, gibt es auch immer ein Angebot. Und so treffen Hilfesuchende, deren Ernsthaftigkeit zur Veränderung nie geprüft wurde, auf im Schnellsiederkurs ausgebildete „Mache alles“ -Lebensberater oder ausschließlich ihrer eigenen Lehre verhaftete Medizinmänner. Die Unterscheidung zwischen erfahrenen Kennern der menschlichen Seele und den vielen Möchtegern-Gurus ist für den Hilfesuchenden fast nicht möglich, die Grenzen sind auch fließend. Bildung schützt Menschen keineswegs davor, sich seltsamen Praktiken auszusetzen. Gerade auf Scharlatane, die nur einer einzigen Methode vertrauen, weil sie keine andere haben, trifft der Spruch des großen Abraham Maslow zu:
„Wenn das einzige Werkzeug, das du besitzt, ein Hammer ist; dann bist du geneigt, jedes Problem als Nagel anzusehen“ – und diese „Experten“ nageln ihre „Klienten“ dann auch wirklich fest.
Wenn wir Hilfe brauchen – Tabu Psychopharmaka und Psychotherapie
Die Lösung für bald zehn Milliarden Erdenbewohner kann nicht in der individuellen Psychotherapie oder der Verabreichung von Psychopharmaka liegen. Umso wichtiger ist mir, festzustellen, dass es Situationen im Leben jedes Menschen geben kann, die er selbst nicht mehr ohne professionelle Hilfe lösen kann. Dann führt kein Weg an einem erfahrenen und professionellen Therapeuten vorbei. Und wenn dieser zu dem Schluss kommt, dass für einen überschaubaren Zeitraum die Hilfe von Medikamenten notwendig ist, dann sollten wir das akzeptieren.
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