Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verletzte Mensch (German Edition)

Der verletzte Mensch (German Edition)

Titel: Der verletzte Mensch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Salcher
Vom Netzwerk:
Alexander T. den Großglockner, den höchsten Berg Österreichs, sehen. Hin und wieder erzählte sie ihrem Sohn von diesem Wunsch. Und immer wieder versprach er ihr, diesen Wunsch zu erfüllen. Mit seinem großen Wagen würden sie einen Ausflug zu dieser traumhaft schönen Bergstraße machen, um dann als Höhepunkt im Ausflugsrestaurant mit Blick auf den Großglockner Mittag zu essen. Jedes Detail wurde in den Gesprächen ausgemalt. Gerade im Augenblick gehe es nur nicht, weil er beruflich in einer besonders angespannten Situation sei. Die Mutter hatte dafür natürlich Verständnis, sie wollte ihrem Sohn auch nicht zur Last fallen. Alexander T. hatte auch tatsächlich vor, seiner Mutter den Wunsch einmal zu erfüllen. Wann immer er aber nur einige Gedanken an die Realisierung verschwendete, schreckte er vor dem Aufwand zurück. Vier Stunden würde allein die Anreise dauern, dann der Aufenthalt und dann wieder die Rückfahrt. Das war an einem einzigen Tag nur mit großer Belastung zu schaffen, die Wahrscheinlichkeit, dass das Wetter so schlecht war, dass man überhaupt nichts sehen würde, ohnehin sehr groß, und er hatte als erfolgreicher Unternehmer ja wirklich viel zu tun. Die Jahre vergingen, seiner Mutter begann es altersbedingt immer schlechter zu gehen. Nur mehr ganz selten sprach sie vom Großglockner, das letzte Mal knapp vor ihrem Tod, als sie ihm anvertraute, dass sie so gerne einmal den Großglockner gesehen hätte. Alexander T. war seit dem Tod seiner Mutter einige Male in der Nähe des Großglockners und jedes Mal beschlich ihn ein ganz ungutes Gefühl. Erwähnte jemand in irgendeinem Zusammenhang diesen Berg, zuckte er stets unmerklich zusammen.
    Am Ende des Weges – so wie du lebst, so stirbst du
    Benannte letzte Wünsche sind ganz wichtig im Caritas-Socialis-Hospiz Rennweg: [37] Eine 57-jährige Frau hatte mit ihrer Familie ein Badehaus an der Donau. Dort verbrachte man viel Zeit und ein wichtiges Erlebnis war das gemeinsame Apfelstrudelessen. Für jemanden, der diese Erinnerung nicht hatte, war das unter einer Betonmauer gelegene kleine Haus kein besonderer Ort, aber für diese körperlich schon sehr gebrechliche Frau war es ganz wichtig, diesen Ort nochmals aufzusuchen. Mit großem Aufwand wurde die Frau mit ihrem Rollstuhl auf die Terrasse gebracht, um dort mit ihren Verwandten Kaffee zu trinken und Apfelstrudel zu essen.
    Ich habe das Hospiz aufgesucht, um Antworten auf Fragen zu finden: Wie gehen Menschen, die wissen, dass sie nicht mehr lange zu leben haben, mit den Verletzungen ihres Lebens um? Vergeben Menschen am Ende ihres Lebens leichter?
    Menschen gehen mit dem baldigen Tod genau so um wie mit ihrem bisherigen Leben. „Man stirbt so, wie man lebt“, ist die wichtigste Erkenntnis, die ich aus den Gesprächen mit den Schwestern und Ärzten mitnehme. Wenn jemand als „Couch-Potato“ vor dem Fernseher dahingelebt hat, dann dämmert er auch apathisch in den Tod hinüber. Jemand, der immer sehr kämpferisch war, kämpft bis zum Schluss gegen den Tod. Es gibt auch Verdränger, die sich nie auf etwas tiefer eingelassen haben, die tun das dann auch am Ende nicht. Menschen, die es geschafft haben, in sich zu ruhen, können den Tod meist leichter annehmen.
    Die 99-jährige Friederike M. suchte ganz bewusst „einen Platz, wo sie absterben kann“. Sie hatte ein gutes Leben und für sie war es Zeit, zu gehen, das akzeptierte sie. Am vorletzten Tag ihres Lebens aß Friederike M. noch ein Wiener Schnitzel, löste vorher sorgfältig die Panier ab, weil das ungesund sei. Das Urvertrauen prägt einen, wie man durch das Leben geht und wie man aus diesem wieder scheidet. Menschen glauben, dass sie entweder selbst Einfluss auf ihr Leben haben oder sie fühlen sich ihm ausgeliefert. Das zeigt sich dann auch beim Sterben.
    „Es gibt Menschen, die in ihren letzten Tagen eine echte Negativbilanz über ihr Leben ziehen: ‚Ich habe eigentlich nie etwas gehabt von meinem Leben, habe mir selbst nichts gegönnt und alles den Kindern gegeben. Ich selbst bin auf der Strecke geblieben.‘ Oder Menschen, die 40 Jahre eine untragbare Beziehung gelebt haben, statt rechtzeitig neu anzufangen. Menschen mit einer derartigen Negativbilanz gehen einfach schwerer“, meint Andrea Schwarz, die Stationsleiterin im CS-Hospiz Rennweg ist.
    „Meine wichtigste persönliche Erkenntnis aus meinem Beruf ist, dass man das Leben voll leben soll, so lange man kann“, erzählt mir Andrea Schwarz. In ihrer elfjährigen Tätigkeit als

Weitere Kostenlose Bücher