Der verletzte Mensch (German Edition)
wie nie zum Therapeuten – denn dahin gehören nach den Vorstellungen ihrer Generation nur „Verrückte“. Nehmen die Beschwerden überhand, wird allenfalls der Hausarzt konsultiert. Und der versteht oft auch nicht, dass Symptome wie Kopf-, Magen- oder Gliederschmerzen, Schwindelgefühle und Sehstörungen manchmal nicht nur Verschleißerscheinungen sind, sondern seelische Ursachen haben können. Der Hausarzt verschreibt dann häufig ein zusätzliches Medikament. „Die meisten niedergelassenen Ärzte sind Körpermediziner. Psychische Probleme werden von ihnen eher am Rande wahrgenommen und auch dort gehalten“, sagt der Psychiater Götze. Endlich „wahrgenommen“ werden diese Patienten dann erst in der Selbstmordstatistik. [35]
Altern in Würde – eine Halluzination?
Altern, Sterben und Tod sind in unserer westlichen Gesellschaft völlig verdrängte Bereiche. Altern in Würde bleibt ein schöner Traum. Denn eine Vision ohne die notwendigen Mittel ist jedenfalls eine Halluzination. Im Altersheim schreit man mit allen Menschen, weil einige schwerhörig sind. Es sind aber nicht alle schwerhörig. Alte Menschen sind nicht alle gleich, wahrscheinlich sind sie das sogar noch weniger als irgendeine andere Altersgruppe. Die Endstation im Pflegeheim, die Aussichtslosigkeit, die immer größeren körperlichen Probleme, die zum Verlust über die Kontrolle von intimsten Bestandteilen des täglichen Lebens führen, im schlimmsten Fall der Selbstmord stehen am Ende eines langes Weges, mit dem wir die Alten immer mehr aus unserem Leben vertreiben. Dieser Weg beginnt mit scheinbar harmlosen Unaufmerksamkeiten, führt weiter über die immer knappere Zeit, die wir den Gesprächen mit den Alten widmen, dem verweigerten Respekt vor ihrer Lebenserfahrung und endet am Krankenbett. Doch wie wäre unser Leben ohne die Alten?
Großvater, du warst mein erster Freund und das vergesse ich dir nie
Lange Zeit waren die Großväter die wichtigste männliche Bezugsperson für die Heranwachsenden. Sie hatten Zeit, erzählten Märchen, bastelten in ihren Schuppen und gingen stolz mit ihren Enkelkindern stundenlang spazieren. Ich bekam noch zehn Schilling, wenn ich meinem Großvater zum Geburtstag gratulierte. So hat sich das gehört. Das letzte Mal habe ich ihn im Pflegeheim Lainz besucht, Lungenkrebs im Endstadium. Er hat heimlich noch weitergeraucht, filterlos. Als er mir angeboten hat, dass er mein Auto sofort reparieren würde und ich ihn nur anrufen müsste, wann immer ich Probleme mit meinem Fahrzeug hätte, wusste ich, dass es dem Ende zuging. Wenn ich mich unbeachtet fühle, singe ich heute noch immer mit, wenn der Evergreen der Musikgruppe STS irgendwo erklingt: „Großvater, kannst du nicht runterkommen auf einen schnellen Kaffee? / Großvater, ich möchte dir so viel sagen, was ich erst jetzt versteh’ / Großvater, du warst mein erster Freund und das vergesse ich dir nie …“ [36]
Und wie wäre meine eigene Kindheit ohne meine Großmutter verlaufen? Wer hätte immer Zeit für mich gehabt, wenn ich mich mit meinen Sorgen nicht einmal zu meinen Eltern getraut habe? Wer hätte mir vom Schrecken zweier Weltkriege erzählt und mir so schon sehr früh vermittelt, welche Gnade es bedeutet, in Frieden leben zu können? Und wer hätte schon knapp nach meiner Geburt ein Sparbuch angelegt, auf dem sie monatlich von ihrer Mindestpension 20 Schilling (1,45 Euro) eingezahlt hat, die mir später geholfen haben, mein Studium zu finanzieren? Meine Großmutter verstarb wenige Tage vor meiner Promotion in jenem Pflegeheim, das man Jahre danach wegen eines Skandals schloss. Ihr und meiner Mutter habe ich dieses Buch gewidmet.
Wir gehen nicht nur auf eine vaterlose, wir gehen auch auf eine großelternlose Gesellschaft zu. Dadurch, dass Eltern mit ihren Kindern nicht mehr im Familienverbund leben, entsteht eine Kluft von über 30 Jahren zwischen den Generationen, die dann im Alter nicht mehr geschlossen werden kann. Standen früher häufig noch gemeinsame Familienausflüge mit den Großeltern auf dem Programm, fallen diese immer häufiger den fast nicht zu bewältigenden logistischen Herausforderungen unserer modernen Freizeitgestaltung zum Opfer. Kinder und alte Menschen, oft Familienmitglieder, leiden, in derselben Stadt lebend, an Einsamkeit. Für die Wünsche unserer Kinder haben wir ein offenes Ohr, dass auch die Alten noch Träume haben, vergessen wir leicht.
Den Großglockner sehen und sterben
Einmal im Leben wollte die Mutter von
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