Der Verlobte
hatte, durch den Kopf. Ob das alles irgendwie zusammenhing?
Tillmann ließ sie alle Revue passieren: die irre Clara, die ihm Angst einjagte, die arme Mama-Lou, die sein Mitgefühl weckte, die Großmutter, die selbst ohne diese Ereignisse etwas Rätselhaftes umgab. Einerseits war es bewundernswert, wie sie die Haltung bewahrte angesichts der Vorfälle, andererseits empfand er dieses Verhalten rein menschlich als höchst abstoßend. War es irgendein psychologisches Phänomen, nach allem, was diese Frau schon erlebt hatte?
Tillmann seufzte leise in sein Kissen. Dass sich auch Lilly derart komisch benahm, war vielleicht so etwas wie eine genetische Konsequenz. Er schnaufte. Wahrscheinlich hatten hier einfach alle eine Meise …
Tillmanns Gedanken drehten sich weiter im Kreis und wurden langsam schwerfälliger. Ihm fielen fast schon die Augen zu, als es auf einmal neben ihm leise raschelte. Lilly bewegte sich.
Nein, sie setzte sich im Bett auf.
Tillmann war sogleich wieder hellwach und lauschte. Was tat sie da? Den Geräuschen nach zu urteilen hantierte sie mit irgendwelchen Kleidungsstücken. Ob sie etwas suchte?
Er riskierte einen vorsichtigen Blick über seine Schulter. Viel erkennen konnte er jedoch nicht im fahlen Mondlicht, das durch das Fenster fiel. Er sah Lillys Silhouette. Dass sie in Hosen stieg und sich einen Pullover über den Kopf streifte, konnte er nur erahnen.
Er stellte sich schlafend, bemühte sich, gleichmäßig zu atmen und lauschte ihrem leisen Gekrusche. Das verhaltene Ächzen von Leder war zu hören. Wahrscheinlich zog sie sich gerade Schuhe an. Dann stapfte sie leise durch das Zimmer und er versuchte, nicht mit den Lidern zu flattern. Als er ein Klicken an der Tür hörte, riskierte er ein Auge: Lilly schlich sich hinaus und schloss sehr behutsam die Tür hinter sich. Was hatte sie vor?
Sobald die Tür zu war, saß Tillmann aufrecht im Bett. Er schlüpfte barfuß in seine Schuhe und stand auf. Sie konnte doch nicht mitten in der Nacht hier im Haus herumgeistern! Nicht nach allem, was geschehen war – und nicht nach dem, was ihr Großvater mehr als deutlich angekündigt hatte!
Mit wenigen Schritten war Tillmann draußen auf dem Gang. Er sah, dass Lilly gerade an der Treppe angekommen war. Vorsichtig und in gebührendem Abstand schlich er ihr nach. Unwillkürlich duckte er sich auf die Höhe des Treppengeländers.
Lilly bewegte sich leise hinunter in die Halle. Fast lautlos huschte sie in das vordere Salonzimmer, das neben dem Speiseraum lag. Tillmann nutzte die Gelegenheit, die letzten Stufen zu übersrpingen und sich um das Geländer herum hinter den Treppenvorsprung zu ducken. Kaum hockte er in dem blassen Mondlicht hinter der Treppe, als Lilly das Salonzimmer auch schon wieder verließ. Sie hielt einen länglichen Gegenstand in der Hand, der Form nach eine Flasche …
Was tat sie denn jetzt? Er erstarrte. Lilly lief leise durch die Halle zur Eingangstür. Sie war offenbar unverschlossen, denn Lilly öffnete sie und trat hinaus. Wo um Himmels willen wollte sie hin? Mit einer Flasche in der Hand? Ob sie vielleicht doch heimlich irgendwo trank? Ratlos starrte Tillmann hinter ihr her.
Die Hunde! Draußen lauerten doch Hänsel und Gretel. Ob Lilly das vergessen hatte? Er richtete sich auf. Dann musste er sie retten!
Von oben war ein Niesen zu hören und Tillmann duckte sich schnell wieder in sein Versteck. Er lauschte, vernahm aber weder Kläffen noch Jaulen noch Zähnefletschen oder Kampfgeräusche. Gut, die Hunde kannten Lilly schon lange. Dass jetzt Ruhe herrschte, bedeutete nicht unbedingt, dass auch er selbst unversehrt über den Kies schlurfen konnte.
Er dachte an die nachmittägliche Konfrontation mit den beiden Doggen. Sie jagten ihm mehr als nur Respekt ein: Tillmann hatte Angst! Natürlich wollte er trotzdem wissen, warum Lilly hier mitten in der Nacht heimlich herumschlich. Und er wollte sie beschützen, notfalls auch gegen ihren Willen …
Tillmanns Grübeleien wurden jäh unterbrochen, als plötzlich ein menschlicher Schatten über die Treppe huschte. Tillmann duckte sich ganz tief in sein notdürftiges Versteck. Die Gestalt glitt durch die Halle in den Speiseraum, hielt sich aber nicht lange auf, sondern kam sofort wieder heraus. Einen Moment lang verharrte sie in der Halle. Tillmann hielt den Atem an. Dann ahnte er mehr als es zu sehen, dass der Schatten wieder über die Treppe nach oben verschwand.
Tillmann wagte nicht sich aufzurichten. Er musste eine ganze Weile in
Weitere Kostenlose Bücher