Der Verlobte
Schlaf.
Heldenruhm und Schelmentum
Plötzlich hallte ein Schuss. Tillmann saß aufrecht im Bett. Da, noch ein Schuss, und noch eine ganze Salve!
»Lilly!«, schrie er entsetzt und war mit einem Satz an der Tür.
»Was ’ n los?« Lilly reckte ihren Lockenkopf und setzte sich im Bett auf. »Warum schreist du so?«
Erleichtert ließ sich Tillmann zurück auf die Bettkante sinken. Er konnte vor lauter Seufzen gar nichts sagen. Hatte er geträumt?
»Was ist denn das für ein Krach da draußen?« Lilly rieb sich die Augen und blinzelte in das schwache Morgenlicht hinaus.
»Du hast es also auch gehört?« Tillmann hatte seine Sprache wiedergefunden.
Lilly nickte. »Klang wie ein Feuerwerk oder so.«
In diesem Moment klopfte es an der Tür. »Kinder, zieht euch an!« Das war die Stimme der Großmutter. »In einer halben Stunde gibt es Frühstück!«
Lilly griff nach ihrer Armbanduhr auf dem Nachttisch. »Es ist sechs Uhr«, maulte sie. »Und es ist Sonntag.« Sie ließ sich wieder in die Kissen plumpsen.
Tillmann eilte ins Bad. Irgendetwas musste in dieser Nacht vorgefallen sein. Und er wollte so schnell wie möglich wissen, was. Er verzichtete auf eine Dusche, putzte sich die Zähne und zog sich in Windeseile an. Während Lilly sich noch in den Kissen wälzte, betrat Tillmann bereits zehn Minuten später den Speiseraum und begrüßte die Großmutter.
»Sie sind aber schnell«, sagte die alte Dame anerkennend. »Sie gefallen mir immer besser, mein lieber Tillmann. Welche Frau möchte schon einen Mann, der morgens stundenlang das Badezimmer belegt?«
Er grinste schief. »Lilly kommt sicher gleich nach«, sagte er und warf einen neugierigen Blick auf die volle Frühstückstafel. Er konnte keinen weiteren Brief entdecken, nur den für Mama-Lou.
Der Großvater betrat in einem edlen Hausmantel den Raum. »Elende Sauerei!«, schimpfte er.
»Karl-Gunter, wir wünschen dir auch einen guten Morgen«, sagte die Großmutter spitz.
»Guten Morgen.« Das war Leopold, der gesenkten Hauptes hereinschlich und sich hinter seinen Stuhl stellte.
»Wie geht es Clara?«, fragte die Großmutter. »Hat sie sich wieder beruhigt?«
Leopold nickte. »Ich habe ihr gestern ein starkes Schlafmittel gegeben. Sie wird sicherlich bis gegen neun Uhr schlafen.«
»Guten Morgen.« Elisabeth guckte noch müde aus ihrer grellen Kriegsbemalung. »Was war denn das vorhin für ein Lärm?«, fragte sie träge.
»Elende Sauerei!«, schimpfte der Großvater erneut.
»Karl-Gunter, du wiederholst dich!« Die Großmutter sah ihn missbilligend an. »Im Übrigen behagt mir deine Ausdrucksweise nicht.«
»Wo ist Bert, dieser Halunke?«, schnauzte der Großvater unbeirrt weiter. »Man hat mir heute Nacht meine Flinte gestohlen!«
»Hier bin ich, lieber Opa!«, rief Bert fröhlich. Dann ging er zur Großmutter und gab ihr einen Kuss. »Und nein, deine Knarre habe ich nicht.«
»Dann waren Sie gar nicht derjenige, der vorhin geschossen hat?«, fragte Tillmann und sah den Großvater forschend an.
»Schlauberger«, sagte der Großvater. »Natürlich nicht. Na los, lasst uns frühstücken. Die beiden werden schon noch kommen.« Er deutete mit einem Kopfnicken zu Tillmanns Seite der Tafel herüber.
Sie setzten sich. »Louise muss bestimmt noch ihren Rausch ausschlafen«, setzte der Großvater missmutig hinzu.
»Ich fürchte, du hast unrecht, mein Lieber«, sagte die Großmutter. »Tillmann, geben Sie mir bitte den Brief dort.«
Er fingerte den Brief von Mama-Lous Teller und reichte ihn der Großmutter, die ihn sogleich öffnete. Sie legte die Stirn in Falten.
» Nichts tränkt so gut wie ein schlechtes Gewissen, verschluckt die Angst vor der Erinnerung «, las die Großmutter mit pathetischer Betonung.
»Ist das alles?«, fragte der Großvater ungehalten. »Was soll der Quatsch? Wir wissen, dass sie säuft! Das ist wohl kaum zu übersehen! Was steht denn da noch?«
»Hier steht, dass sie entführt wurde.« Die Züge der Großmutter erstarrten.
»Na, endlich mal was Neues«, sagte Bert lakonisch.
»Wir sollen eine Million Euro zahlen«, erklärte die alte Dame tonlos.
»Pah!«, schnaubte der Großvater. »Die Hälfte des Geldes versäuft Louise doch in einer Woche!«
»Karl-Gunter, ich bitte dich«, sagte die Großmutter. »Das ist jetzt wirklich unpassend.«
»Warum?«, fragte der Großvater gereizt. »Allein mit dem, was sie in den letzten Tagen hier in sich reingeschüttet hat, kommt ein sibirischer Stammtisch einen ganzen Winter lang
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