Der Verlobte
dieser Haltung zugebracht haben, denn seine Knie begannen zu schmerzen und sein linkes Bein kribbelte, es schien gerade einzuschlafen.
So flink, wie sich dieser Schatten bewegt hatte, konnte er nur einem jungen Menschen gehören und für eine Frau war er zu groß – es musste Bert gewesen sein! Bert, der ihm über die angebliche Motorradfahrt irgendeine Lüge aufgetischt hatte, und vielleicht nicht nur eine. Bert, der Sohn von diesem Phantom-Onkel Ludger …
Tillmann erhob sich ächzend und schlich vorsichtig, das linke Bein etwas nachziehend, ins Speisezimmer.
Im diffusen Licht, das der Mond durch die großen Fenster schickte, erkannte er, dass der Tisch bereits für das Frühstück eingedeckt war. Suchend schlich er um die lange Tafel herum. Onkel Leopolds Platz, daneben Veronikas, Tante Lilos – wie eigenartig, dass immer noch für die Toten mitgedeckt wurde. Doch selbst für den entführten Ludger wurde ja noch mitgedeckt … Claras Platz.
Natürlich! Deshalb tat man hier so, als ob alle jeden Moment ihre Plätze einnehmen könnten: Clara wurde ja eine normale Situation vorgegaukelt.
Es folgten Berts Gedeck, das der Großmutter, Pauls, sein eigener Teller, Lillys und Mama-Lous Platz – dort lag ein Briefumschlag, direkt auf dem Teller von Mama-Lou!
Tillmann atmete tief durch. Doch als er nach dem Umschlag griff, schlug sein Herz schneller. Im fahlen Licht konnte er nicht wirklich lesen, dass »Louise« auf dem Umschlag stand, er ahnte es nur. Tillmann wog den Brief in seinen Händen. In diesem schummrigen Mondlicht würde er ihn nicht entziffern können. Selbst wenn er ein Feuerzeug oder Streichhölzer gehabt hätte, er wäre das Risiko der Entdeckung nicht eingegangen. Sollte er ihn einfach mitnehmen? Nein, das war ausgeschlossen. Wie hätte er wem auch immer plausibel machen sollen, dass er den Brief hatte – und dass er inzwischen fast sicher war, dass Bert ihn hierher gebracht hatte?
Seufzend legte Tillmann den Brief zurück auf den Teller, überzeugte sich davon, dass beim Großvater keines dieser seltsamen Kuverts lag und schlich zurück in die Halle.
Wo Lilly nur blieb? Sollte er hinausgehen und nach ihr suchen? Dort lauerten die Hundebestien … Oder sollte er einfach in der Halle auf Lilly warten? Hier lauerte irgendwo der Großvater mit seinem Gewehr und war gewiss nicht zimperlich …
Wie Tillmann es auch drehte und wendete, am sichersten war er vermutlich auf dem Zimmer. Langsam ging er auf Zehenspitzen die Treppe hoch. Er wusste nicht, worüber er sich mehr Sorgen machen sollte – dass Lilly nach draußen verschwunden war, oder dass sie sich so seltsam benahm? Vielleicht lag Lilly ja auch längst wieder in ihrem Bett und schlief.
Kaum war Tillmann im Zimmer angekommen, musste er feststellen, dass dem nicht so war. Das Bett war leer. Er streifte die unbequemen Schuhe von seinen nackten Füßen. Erst jetzt bemerkte er, dass er fror. Schnell schlüpfte er unter seine Decke. Er vergewisserte sich noch einmal, dass Lillys Seite des Bettes leer war und er sich das alles nicht im Halbschlaf eingebildet hatte.
Was tat sie nur dort draußen? Tillmann konnte einfach nicht glauben, dass sie sich nachts irgendwohin zurückzog und heimlich Alkohol in sich hineinschüttete. Sofort waren seine Gedanken bei Mama-Lou! Wenn er auch den Inhalt des Briefes noch nicht kannte, so wusste er doch um seine Existenz …
Tillmann kam wieder auf die Beine und schlich – diesmal barfuß – hinaus auf den Flur. Zwei Türen weiter war Mama-Lous Zimmer. Er drückte vorsichtig die Klinke herunter. Nichts. Er versuchte es noch einmal. Nichts. Die Tür war verschlossen. Immerhin hatte sie seinen Rat befolgt und abgeschlossen!
Ein bisschen erleichtert huschte Tillmann zurück in sein Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. Dieses Gefühl, dass da im Dunkeln irgendwo eine Waffe lauerte, die Vorstellung, den sabbernden Bestien zwischen die Kiefer zu geraten, dieser ganze familiäre Psychokrieg hatten ihn ganz schön mitgenommen. Sein Kopf dröhnte und er fühlte sich mit einemmal völlig erschöpft. Wenn Lilly wirklich trank, war das gar nicht so verwunderlich.
Tillmann gähnte herzhaft. Er merkte, dass er die Augen kaum noch offen halten konnte. Mühsam konzentrierte er sich auf seine Gedanken: Dieser Bert erlaubte sich mit dem Brief vielleicht nur einen makabren Scherz. Zuzutrauen wäre ihm das! Er würde Lilly sicher nichts tun … Außerdem … Tillmanns Bewusstsein glitt unvermittelt ab in tiefen traumlosen
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