Der Verlobte
richtige Richtung bewegte. Regungslos verharrte er und starrte auf die Lefzen vor seiner Nase. So unbequem diese Situation auch war, so sehr hoffte er, dass die Doggen ihrer Position nicht überdrüssig wurden. Er verspürte nicht die geringste Lust auf einen Faustkampf mit diesem Rache-Onkel. Außerdem war nicht auszuschließen, dass er noch eine andere brauchbare Waffe hatte. Um herauszufinden, was er vorhatte, versuchte Tillmann es mit Konversation.
»Was waren das eigentlich für Schüsse heute Morgen?«, keuchte Tillmann hinter der riesigen Dogge hervor.
»Louise«, stöhnte es hinter der Nachbardogge. »Das war Louise. Sie ist wirklich total verrückt!«
Wenn er Mama-Lou schon total verrückt fand, dann war er seiner Frau Clara seit seiner Rückkehr aufs Familienanwesen offenbar noch nicht begegnet.
»Wenn ich mir eine weitere Frage erlauben darf«, hob Tillmann an, ohne Ludgers Zustimmung abzuwarten. »Warum mussten Veronika und Paul sterben?«
»Ich wollte Leopold quälen, bevor es ihn selbst erwischt, diesen verlogenen Schleimer. Er sollte seiner toten Tochter ins Gesicht sehen«, knurrte Onkel Ludger hinter der Dogge hervor. »Aber im Auto hat es dann leider Fritz und nicht Leopld getroffen. Das war nicht geplant.«
»Und Louise?«, fragte Tillmann. »Wollen Sie sie auch noch töten?«
Onkel Ludger schnaufte. »Nein, das macht sie doch schon selbst …«
»Aber Paul«, sagte Tillmann. »Es ist mir immer noch nicht klar, warum Paul sterben musste?«
»Paul.« Der Rache-Onkel lachte bitter auf und die Doggen knurrten leise. »Paul und ich sind uns vor Jahren zufällig begegnet. Von ihm erfuhr ich doch erst von den Machenschaften meiner Geschwister«
»Gretel, hierher!«, hörte Tillmann auf einmal die Stimme der Großmutter. Im selben Moment gab seine tierische Bewacherin ihn frei. Er schüttelte sich, pudelnass wie er durch den permanenten Nieselregen inzwischen war, und sah, dass Hänsel noch immer Onkel Ludger gegen einen Wagen drückte. Mit steifen Beinen und schmerzenden Schultern schleppte sich Tillmann über den Kies.
Die Großmutter stand am Fuße der Freitreppe und nickte ihm anerkennend zu. »Sie haben sich wirklich ein zweites Frühstück verdient«, sagte sie freundlich.
»Ich würde mich nur gerne erst etwas frisch machen«, erwiderte Tillmann matt. »Wie geht es Lilly?«
»Danke, ganz gut«, antwortete die Großmutter lächelnd.
»Und Mama –, ähm, Louise?«, fragte er.
»Sie möchte unbedingt mit Ihnen anstoßen.« Die Großmutter zog die Augenbrauen hoch. »Sie sagte etwas von einer Belohnung …«
Tillmann lief – so schnell es ging angesichts seiner schmerzenden Glieder – durch die Halle und die Treppe hinauf, um niemandem zu begegnen. Erleichtert schloss er die Zimmertür hinter sich und reckte sich ausgiebig. Jeder Knochen schien wehzutun, sodass er sich schnell unter die Dusche stellte. Ein frisches Hemd hatte er nun nicht mehr im Gepäck und so machte er sich bald darauf in Jeans und Pullover auf den Weg ins Speisezimmer. Schließlich wollte er endlich wissen, was hier tatsächlich los war. Sein Instinkt sagte ihm, dass in dieser Familie weit mehr im Argen lag, als die alten Herrschaften bisher bereit gewesen waren zuzugeben.
Schon auf der Treppe vernahm Tillmann ausgesprochen lautes Stimmengewirr. Was war denn jetzt schon wieder? Seufzend setzte er seinen Weg fort. Als er die Tür zum Speisezimmer öffnete, war er auf alles gefasst.
Nun ja, auf fast alles. Auf das, was ihn tatsächlich dort erwartete, wäre er in seinen kühnsten Träumen nicht gekommen!
Ungläubig starrte Tillmann auf eine voll besetzte Tafel. Eine Tafel, wie sie das ganze Wochenende über nicht zusammengekommen war!
Da saßen Onkel Leopold, seine völlig unversehrte Tochter Veronika, eine putzmuntere Tante Lilo und die grelle Elisabeth, daneben ganz friedlich Onkel Ludger mit einer lächelnden Clara und einem schmunzelnden Bert an seiner Seite. Und neben der Großmutter grinste ihn ein quicklebendiger Paul an …
Lilly lief auf ihn zu und führte Tillmann zum letzten freien Platz am Tisch, wo Mama-Lou wartete, doch nicht in Begleitung eines Cocktails, sondern in der ihres Mannes Fritz.
Der Großvater erhob sich und kam auf Tillmann zu. »Sie sind schon ein prima Bursche, mein guter Tillmann!«, dröhnte er fröhlich und versetzte ihm einen Schlag auf die schmerzende Schulter.
Vermutlich war Tillmanns Gesichtsausdruck alles andere als intelligent, als jetzt die Großmutter hinzutrat, ihm
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