Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Bis zur Furt hat er nur freies Land vor sich. Die einzige Ausnahme bildet jenes Wäldchen. In der Annahme, unter den Bäumen oder wenigstens zwischen den Steinen Schutz zu finden, treibt er Panuffel wie rasend an und hält darauf zu. Beide Hoffnungen werden betrogen. Als Furgo bei den Findlingen langsamer werden muss, schlägt der Criarg zu. Sein Schnabel fährt auf deine Mutter nieder. Doch der Wagen kippt um dabei. Amafilia gerät unter ihn. Der Vogel kommt an seine Beute nicht mehr heran. Furgo übersieht und verschmäht er, weil er ein männlicher Vahit ist. Ebenso Panuffel, solange er die Frau darunter wittern kann. Du weißt, wie Criargs sind. Erinnere dich, wie sie sich bei Anselma gebärdeten; und sie war schon tot. Hier hatte er lebendiges, blutendes Fleisch vor sich! Er wird gerast haben vor Gier! Es tut mir so leid, Finn. Deine Eltern müssen Todesängste ausgestanden haben.«
Finn schauderte.
Mellow begann im Sprechen hin und her zu gehen. »Ich stelle mir den Gidrog vor, der seinen wild gewordenen Vogel bändigen will. Er wird aus dem Sattel geworfen oder springt herab. Er läuft herbei und zerrt an den Zügeln, doch vergeblich. Der Criarg lässt nicht nach. Er hackt auf den Wagen ein. Seht hier, diese langen Risse im Holz stammen gewiss von seinem Schnabel. Da zückt der Gidrog sein Schwert. Er öffnet den Leib des armen Panuffel. Sein Blut soll den Criarg ablenken. Doch vergeblich. Jetzt bückt sich der Gidrog. Ich sehe ihn vor mir, wie er seinen Arm ausstreckt und unter dem Wagen nach deiner Mutter greift. Er will seinem Tier die nun einmal auserkorene Beute beschaffen. Er tastet herum, er erfasst ihren Mantel …«
»… und reißt ihr dabei die Tassel ab«, rief Finn. »Dann muss etwas geschehen sein, von dem wir noch nichts wissen. Entweder kommt Mama zu sich und tut etwas – ich weiß nicht, was . Oder Papa … Ach, ich kann es nicht sagen.«
»Achtet stets auf die unscheinbaren Dinge«, gab Circendil zu bedenken. Er bückte sich und hob die Fetzen von bunten Stoffen auf, aus denen die hölzernen Splitter ragten. »Was ist wohl diesem hier widerfahren?«
»Es ist Mamas Regenschirm.« Finns Stimme war ein Krächzen.
»Mir scheint, Amafilia war mutig oder verzweifelt genug, ihn zu benutzen.« Circendil legte das Gerippe zurück ins Gras. »Ja, sie kam wieder zu sich, ergriff den Schirm und schlug damit – nein, wartet, dann wäre er nicht derart zerfetzt. Sie muss ihn aufgespannt haben!«
»Und hat so den Criarg verstört, vielleicht sogar verscheucht.« Mellow ging aufgeregt hin und her. »Aber etwas hat den Schirm am Ende doch zertrümmert.«
»Das Schwert oder der wütende Fuß des Gidrogs«, vermutete Finn.
»Oder alles war ganz anders«, seufzte Circendil. »Die Wahrheit wird ein Rätsel bleiben, ein Geheimnis, gefangen zwischen finsteren Felsen. Hier habe ich ein weiteres für euch. Der Riemen an der Tasche ist entzweigerissen.« Er setzte sich zu Finn auf Geldos Stein und hob das zerfaserte Ende an. »Ich möchte wetten, ich kenne das verloren gegangene restliche Stück.« Inku bewegte seine Nase hin und her und schnüffelte aufgeregt an dem herabbaumelnden Lederriemen. Auch er erkannte den Geruch wieder.
»Da siehst du’s«, meinte Circendil lächelnd. »Misstraue nie der feinen Witterung eines Atruma. Hätten wir das Leder heute früh aufgehoben, würden wir sehen können, wie beide Enden zusammenpassen. Aber ich bin meiner Sache auch so ziemlich sicher. Der Riemen am Grenzstein und diese Tasche gehören zusammen. Ja. Ich stimme Mellow zu. Etwas muss diese Beschädigung verursacht haben. Jemand oder etwas zerrte daran. Wahrscheinlich riss das Leder erst nur an – vielleicht, als der Gidrog den Vogel zu bändigen suchte. Als sich der Criarg später wieder in die Lüfte erhob, brach das Leder ganz, und die Tasche fiel herab. Ich vermute, der Gidrog hat es nicht einmal bemerkt. Er wäre sonst zurückgekehrt und hätte nach ihr gesucht.«
»Und erst im Fluge, hoch über Vierstraß, entdeckte er das lose baumelnde Ende. Er warf es wütend von sich, mitsamt der blutverschmierten Tassel, die keinen Wert für ihn besaß.«
»Und beides landete unweit des Grenzsteins nahe der Straße«, nickte Circendil. »Ja, so könnte es gewesen sein. Ich bin fast sicher, dass es sich so abgespielt hat. Auch wenn wir die Frage nicht beantworten können, weshalb der Criarg von seiner Beute – verzeih: deiner Mutter, wollte ich sagen – letztlich abgelassen hat. Oder warum er
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