Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
wertlosen Plunder«, rief Gasakan erbost. Er wandte sich ab und fuhr Geldo an. »Schreib das da gefälligst in dein Buch: Die anwesenden Zeugen, namentlich dem zuständigen Vogte bekannt und so weiter, verweigern widersetzlich die Herausgabe eines von Amts wegen beschlagnahmten Fundstücks am Unglücksort und so weiter und so weiter. Und dann pack endlich deine Sachen ein! Wir sind hier fertig! Nun mach schon. Wir warten nicht.«
Geldo raffte alles zusammen und stolperte hinter den mit Gasakan abrückenden Landhütern her.
»Schreib das bitte auch in dein Buch, Finn«, bat Mellow. Er schickte den Davongehenden finstere Blicke nach. »Wenn dies alles hier vorbei ist und es dann noch ein Hüggelland gibt … dann will ich nicht vergessen, im Tiefengau für eine Neuordnung der Landhüterey zu sorgen. Du meine Güte! Wer hat ihm nur seinen Hut gegeben! Das frage ich mich! «, ahmte er den Gauvogt mit verstellter Stimme nach.
Die roten Hüte verschwanden hinter der nächsten Steinwand.
Plötzlich waren sie allein.
Der Wind heulte zwischen den Findlingen. Finn fröstelte und zog seinen Mantel enger um sich. Er betrachtete den umgestürzten Wagen und versuchte, sich vorzustellen, wie seine Mutter daruntergelegen hatte, blutend, ohnmächtig, und irgendwo zwischen den Felsen lauerte ein Criarg mit seinem Reiter. Er versuchte es und vermochte es nicht.
»Warum?«, fragte er den Wind. »Warum nur hat er den Wagen angegriffen?«
Mellow beugte sich mit zugehaltener Nase über Panuffels Kadaver. »Um zu fressen?«, vermutete er. »Criargs sind groß und müssen, wie alles, was lebt, bei Kräften bleiben. Vielleicht hatte er es auf das Pony abgesehen.«
»So wie es andere gestern auf die Schafe bei Halberweg abgesehen haben? Wir sind uns doch einig, wie wenig wahrscheinlich diese Wolfsgeschichte ist.«
»Zu weit hergeholt«, nickte Mellow. »Also … sie fressen. Schafe. Ponys. Zumindest an diesem hat jemand gerissen.«
»Ja, aber es waren keine Criargschnäbel«, sagte Circendil undbeugte sich ebenfalls über das tote Tier. »Hier seht ihr Bisswunden wie von Ratten oder Füchsen, aber keine Rissspuren. Was immer hier fraß, es ging auf vier Pfoten und hatte keine Flügel. Und mir kommt dabei ein Gedanke, der mich schaudern macht. Ihr vergesst in euren Überlegungen, wer von Finns Eltern durch einen Schnabel verletzt worden ist. Furgos Beinwunde ist eine Folge des umgestürzten Wagens, da gehe ich eine Wette ein: Er wurde herabgeschleudert, prallte gegen den Felsen, etwas in der Art; aber deine Mutter wurde von einem Schnabelhieb getroffen. Denkt einmal nach. Wen fraßen die Criargs beim Acaeras? «
»Anselma«, antwortete Mellow dumpf.
»Wen hielten die Gidrogs in einem Käfig gefangen?«
»Gatabaid«, murmelte Finn. »Ein Mädchen und eine Frau. Du meinst …«
Circendil nickte. »Und hier wurde Amafilia … herausgepickt, könntest du sagen. Abermals eine Frau. Vielleicht ist es ihr Blut, das die Criargs anlockt. Es mag süßer sein als das von männlichen Vahits. Aber was immer es ist – wenn diese Vögel die Wahl haben, verschmähen sie offenbar Ponys und Schafe.«
Finn sah zuerst Circendil fassungslos an. Dann sank er auf Geldos flaches Felsenstück und keuchte: »Mein Traum! Also war er mehr als nur ein nächtliches Trugbild … Ich erzählte dir davon – heute früh in Vierstraß. Mir träumte von Saisárasar. Er forderte mich auf, zu wählen, welches Fleisch ich essen wolle – Hunde- oder Mädchenfleisch! Jetzt erkenne ich, es lag ein Hinweis darin, den mein Herz mir geben wollte.«
»Ja.« Der Mönch nickte. »Sie nähren sich gern von weiblichem Fleisch. Ob immer oder nur im Fall der Vahits, weiß ich nicht zu sagen. Eine andere, ebenso bedeutsame Frage ist, weshalb dieser so dicht bei einem Dorf zuschlug. Ich vermute, es war ein Gebot der Not. Ich denke, er flog mit letzter Kraft und hatte einen weiten Weg hinter sich, ehe er die Höhe des Sturzes bei Aarienheim erreichte. Die Gier des Criargs hieß ihn Beute schlagen, und er sah oder witterte – eine Vahit frau . Es ist zu bezweifeln, ob seinReiter damit einverstanden war. Ein erschöpfter und hungernder Criarg mag sich dem Befehl seines Herrn widersetzen.«
»So stieß er bei der erstbesten Gelegenheit herab«, setzte Mellow Circendils Gedanken fort. »Aber dein Vater, Finn! Er muss ihn rechtzeitig gesehen haben. Die Spuren verraten es. Ich sehe es jetzt vor mir: Er lenkt den Wagen sofort von der unsicheren Straße fort.
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