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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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die Tassel zunächst behielt. Jedenfalls bekam der Gidrog sein Reittier wieder in die Gewalt. Das wissen wir, denn er flog fort. Vielleicht zunächst sogar nur bis zu den Weiden von Halberweg, um dort ein Schaf zu reißen.«
    Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Es ist müßig, darüber weiter nachzudenken. Allemal wichtiger ist, welchen Verlust der Feind womöglich erlitten hat. Lasst uns nachsehen, was sich in der Tasche findet.«
    Er löste die Verschnürung, drehte die Tasche um und schüttete den Inhalt heraus.
    Zwei mehrfach gefaltete Bögen unterschiedlicher Größe fielen ihm in den Schoß.
    Der größere war schwer und bestand aus etlichen Lagen übereinandergelegten, hauchdünnen Leders: Eine Art alten Pergaments schien es zu sein, von nachgedunkelter, an den Rändern schon bräunlicher Farbe, obwohl seine eigentliche Färbung ein heller Ockerton gewesen war. Der andere war ein mit Rotlack versiegelter Brief aus Papier. Von einer annehmbaren und handwerklich anständigen Güte, wie Finn sofort erkannte, obwohl er gleichzeitig Unterschiede in der Feinheit zu demjenigen entdeckte, das Furgo in seiner Werkstatt schöpfte. »Das ist kein Vahitpapier«, erklärte er mit Bestimmtheit. »Papa kann das besser.«
    »Ich kenne die Machart solchen Papiers«, sagte Circendil. »In Caras Berene, der Hauptstadt Revinores, wird es gern verwendet. Aber das Zeichen des Siegels ist mir fremd.« Er befuhr die Kanten des roten Lacks mit seinen Fingern. »Und es ist ganz gewiss kein Vahitsiegel. Doch sehen wir weiter. Hier ist ein Vogelfuß zu erkennen. Er hat Ähnlichkeit mit den Zehen eines Rabenfußes, würde ich sagen, und das da drüber könnte ein Granndonblatt sein.«
    »Ein was?« Mellow hob fragend die Brauen.
    »Ein Granndonblatt. Die mächtigen Granndonbäume wachsen nicht soweit im Norden, sondern sie ziehen den wärmeren Süden vor«, murmelte er. »Sie sind das Wahrzeichen des Fürstentums Ciryaëto, eines Teilbereichs von Revinore. Der Granndonwald bildet eine seiner Gemarken. Hm! Doch niemals führten die Telpi einen Rabenfuß im Wappen. Oder doch? Raben! Wo habe ich dergleichen nur schon gesehen? Ich war bisher nur für einige kurze Aufenthalte in Revinore. Ich wollte, es wären mehr gewesen. Ich kenne es weniger gut als Arelian. Rabenfüße! Himmel noch mal!   … Nein, ich kann mich nicht erinnern. Nun, ich will es wagen und das Siegel gleich hier zerbrechen.« Er zog ein kleines Messer hervor und öffnete damit vorsichtig den Brief.
    Der Mönch hielt den Brief so, dass er den Wind mit seinem Körper abdeckte. »Also, hier steht geschrieben:

    Von Eurem treuen Verbündeten
    an Simorgh   – ich glaube es nicht!   – Saisárasar   … ?!«
    Mellow schnellte herum. »An wen? Wie kann das sein? Ein Brief aus Revinore an   … an IHN   … ?«
    »Was bedeutet ›Simorgh‹?« Finn verzog beim Sprechen sein Gesicht, als flöße ihm allein der Gebrauch des Wortes Unbehagen ein. Ihm war kalt, und er trat fröstelnd von einem Fuß auf den anderen.
    »Gedulde dich«, bat Circendil. »Geduldet euch beide. So lautet der Brief:

    Machtvoller Herr,
    Stattwalter des Einen, Eures Herrn,
    Verkünder Seines Willens, Arm Seiner Macht,
    ich grüße Euch. Ihr verlangtet Nachricht!
    Von mir und zur Unzeit, denn abgemacht war eine längere Frist, wie Ihr wohl wisset. Ihr aber schicktet mir erneut Euren geflügelten Boten, und er war nicht gewillt zu warten. So will ich Euch Kunde geben, aber nur insoweit, wie ich Sicheres über das Reifen unserer Pläne zu sagen vermag.
    Da Euer Bote auf Eile drängte   – und Höflichkeit ist etwas, das Ihr ihm noch beibringen müsst   –, genügte die Zeit nicht, die Rückkehr der Dornen abzuwarten, die neueste und verlässlichere Nachricht aus Caras Berene gebracht hätten.
    Nun wohl, vernehmt stattdessen, was gewiss ist. Es ist dies: Ciryanor bekommt seit Jahresbeginn das Mark der Jihlih-Feige in kleinsten Tropfen zu kosten, und seine Gesundheit schwindet in ebenso kleinen Schritten, doch so unmerklich das ist, so unaufhaltsam ist es auch. Seine Eltern sind inzwischen aufs Äußerste besorgt, und ihre Gedanken sind nur zu oft bei ihrem einzigen Sohn. Sechs Jahre zählt er jetzt, und er wird das siebente nicht zur Gänze erleben. Tukval ist so verlässlich, wie ich Euch versicherte. Die königlichen Ärzte sind ratlos. Zum Jahresende wird Ciryanor das Bett nicht mehr verlassen können. Schon jetzt vernachlässigt der König seine Pflichten. Hierin geht der Plan des

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