Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Einen auf.
Nande Gimilruën genießt das Vertrauen der Königin weiterhin. Ich wünschte, Ihr hättet uns mehr als nur eine Sinyanhwe überlassen, die die Sinne betört.
Der Ring der Dornen umschließt Caras Berene derweil in immer engerem Kreis. Wenn zu Alvain die Euren kommen, werden sie die S tadttore offen finden. Doch haltet Euch an die vereinbarte Zahl: hundertfünfzig bewaffnete Krieger, zu Fuß, und keinen einzigen mehr! Unter der Führung von einem, der unserer Sprache mächtig ist. Und der sich vollends meinem Befehl unterwirft! Verratet mir vorher seinen Namen, oder besser: Schickt ihn mir. Er soll das Losungswort nennen.
Noch hat sich der Hafenkapitän nicht im Netz der Dornen verfangen, aber auch das ist nur eine Frage der Zeit – einer verhältnismäßig kurzen Zeit, wie mir Tukval berichtete. Undóthyr ist schwach: Zu viel Spiel und zu viele Rocksäume umnebeln seine Sinne, und, wo das nicht, der Rausch. All dies wird ihn willfährig machen.«
Circendil hob den Blick und sagte: »Hier folgt ein großer Absatz im Brief. Auch die verwendete Federbreite ist ab hier eine andere, aber es ist dieselbe Schrift. Es kommt mir vor, als sei der Schreiber beim Verfassen unterbrochen worden. Vielleicht hat auch das Eintreffen weiterer Nachrichten ihm einen anderen Schluss als ursprünglich beabsichtigt aufgenötigt. Hier geht es weiter:
Wie steht es nun mit Eurem Teil unserer Abmachung? Habt Ihr inzwischen Nachricht aus U.? Wo bleibt Euer Unterpfand, Simorgh? Ihr drängt auf Eile, aber Ihr verabsäumt selber das, was mich betrifft. Den Verlauf der Fuíl Vahogath auf einer Karte festzulegen ist eines. Aber solch eine Mauer muss errichtet werden, und das kostet Zeit. Es bindet Männer auf wenigstens zwei Jahre. Werdet Ihr, bis sie steht, Eure übrigen Krieger aus Revinore fernhalten können? Gewiss, Arelian und Vindlian sind weit, aber Ihr reitet auf Rossen mit sturmerprobten Flügeln, unter denen Meilen zu Kindesschritten schrumpfen. Wie sicher werden sie dort bleiben?
Ich habe Euer Wort, aber habe ich auch die Tat? Eure Ungeduld macht mich umso bedächtiger. Ihr werdet verstehen, dass ich mich absichern muss. Revinore ist ein zu teures Gut, um es allzu leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
D ie Karte, nach der Ihr fragtet, konnte Gimilruën in des Königs eigener Schriftensammlung einsehen und sie, über Wochen hinweg, unbemerkt abzeichnen. Mit allen Schriftzeichen, wie Ihr es verlangtet, obwohl niemand sie lesen kann hierzulande. Oder nicht mehr, wenn sie so alt ist, wie Ihr behauptet. Nun liegt jene Abzeichnung versiegelt in ebenso sicherem Fache, doch keineswegs an Stelle der echten Karte, wie Ihr es fordertet. Die Sinyanhwe sorgt dafür – niemand wird ihr Verschwinden bemerken. Wenn dieses Pergament indes für Euch von so großem Nutzen ist, wie Ihr glaubt, dann soll es meine Absicherung sein.
Ich gebe die Karte Eurem Boten mit. Aber nur deren eine Hälfte, denn ich ließ sie mittenzwei trennen. Die andre Hälfte lasse ich verwahren: an einem Euch unbekannten Ort. Und ich schreibe Euch in aller Umsicht auch dies: Es brächte nichts, mich oder die Meinen zu foltern, denn ich weiß selbst nicht, wo sich dieser Ort befindet. Aber jene, die es wissen, beobachten mein Wohl und Wehe! Stieße mir etwas zu, so würdet Ihr das verlieren, wonach Ihr trachtet. Es sollte Euch vielmehr angelegen sein, mein Leben zu schützen.
Bleibt Ihr angesichts dessen wahrhaftig, woran ich nicht zweifle, so übergebe ich Euch die andre Hälfte an jenem Tage, da die Fuíl Vahogath sich um Revinore schließt. Es wird zudem jener Tag sein, an dem Euch die vereinbarten Blutgeiseln ausgeliefert werden sollen.
Steht Ihr zu Eurem Wort, so halte ich mich ebenso gewiss an das Meinige.
Ihr, Simorgh, wart kein Narr, als ich Euch traf. Werdet keiner, indem Ihr Eure Absprachen vergesst.
Zu Alvain also lasst uns beide Sieger sein. Euch erwartet das verdiente Lob Eures Herrn, vielleicht gar das, was Ihr erstrebt – meint Ihr etwa, ich kenne Euren sehnlichsten Wunsch nicht? –, mich indes die Krone, die mir rechtens gebührt. Geht sie an mich, wird Revinore die Hoheit des Herrn von U. anerkennen.
Dies schreibt und versichert Euch
Tulsin, der Herr des Granndonwaldes«
Circendil ließ den Brief sinken. »Tulsin, der Herr des Granndonwaldes«, wiederholte er. Der Mönch wendete das Blatt, aber die Rückseite war unbeschrieben.
Sein Gesicht verfinsterte sich.
»Jetzt verstehe ich mehr. Blatt und Klaue. Die Fürsten von
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