Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Tulsina führen den Raben kopf in ihrem Banner. Einer aus ihrem Haus gilt seit beinahe einem Jahrzehnt als vogelfrei – Azanultol, der Sohn Saculdurs, des vormaligen Königs von Revinore. Er ward gefangen, doch er entkam. Nun ist er auf freiem Fuß – deshalb vielleicht der Raben fuß . Offensichtlich hält er sich im Granndonwald versteckt. Welch eine Kühnheit! Mitten im Gebiet seiner Feinde.«
Circendil sah die beiden Vahits lange an.
Bitterer Ernst und eine beginnende Ratlosigkeit stahl sich in seine Züge. »Begreift ihr, was diese Zeilen besagen? Selten erblickte ich größere Heimtücke und Verschlagenheit, gepaart mit solcher Unvernunft! Wie kann er derlei Dinge nur einem Brief anvertrauen?«
»Ehrlich gesagt habe ich nicht allzu viel davon verstanden«, gestand Finn. »Nichts, im Grunde genommen. Und anderen mag es ebenso ergehen. Alle diese fremdklingenden Namen sagen mir nichts. Aber er enthält Böses, so viel ist mir klar. Wer ist dieser Knabe, der da langsam vergiftet wird? Ein sechsjähriges Kind! Denn das ist es doch, was mit ihm geschieht, nicht wahr?«
»Ciryanor ist der Thronfolger, der Sohn des jetzigen Königs Telemril«, erklärte der Mönch. »Und wenn das wahr ist, was hier steht, schwebt er wahrlich in tödlicher Gefahr. Und mit ihm das gesamte Reich Telemrils.«
»Telemril? Den Namen erwähnte auch Saisárasar«, erinnerte sich Mellow seiner misslungenen List. »Ich habe mich schon beim Acaeras gefragt, woher er diesen Namen wohl kannte. Das zumindest verrät dieser Brief. Saisárasar befand sich zuvor in Revinore und traf dort mit Tulsin zusammen. Und dieser Tulsin schreibt von großer Niedertracht, und er selbst ist der Kopf desGanzen, so viel ist mir klar. Er will Revinore dem Feind überlassen, glaube ich. Oder was bedeutet dieses die Tore offen finden und alles?«
»Ja. Heimtücke und Verrat«, murmelte Circendil. »Sie waren schon immer die besten Waffen des Feindes. Oder soll es nur so scheinen? Dieser Brief könnte eine Fälschung sein. Aber wen sollte er damit täuschen wollen? Er ist uns nicht absichtlich in die Hände gespielt worden. Und selbst wenn – zu welchem Zweck? Nein, ich fürchte, er ist echt. Zu unserem Leidwesen, sage ich. Zwei Feinde des Königreiches haben sich zu dem unseligsten Bündnis zusammengeschlossen, das man sich nur denken kann. Sie nehmen Revinore in die Zange: von außen und von innen. Einer wird von außen kommen. Saisárasar oder einen, den er schickt. Und wir wissen sogar, wann er kommen wird: zu Alvain, dem Neujahrsfest. Der andere bedroht das Reich von innen. Tulsin oder mit richtigem Namen Azanultol, wie ich vermute. Er will die Tore öffnen. Zum Dank soll er die Krone Revinores erhalten. Ein König von Lukathers Gnaden will er sein! Tulsin will die Oberhoheit des Grausamen anerkennen. Und er will eine gewaltige Mauer bauen, eben die Fuíl Vahogath. Eine Blutmauer! Wenn ich alles richtig verstehe, so soll diese Mauer Revinore vollständig einschließen. Wozu? Es gibt nur eine Antwort. Weil alle übrigen Lande Kolryns dem Herrn von U. anheim fallen sollen. Der Herr von U. – dahinter verbirgt sich natürlich Ulúrlim …«
»… oder Ulúrcrum«, warf Finn ein.«
»… vielleicht auch Ulúrcrum, ja. Und damit Lukather selbst. Der Feind will sich die Sache einfach machen. Indem er Revinore Freiheit verspricht für ein Stillhalten während und nach den Kämpfen gegen Vindland und Arelian. Freiheit! Lächerlich. Glaubt Tulsin dies wirklich? Dann ist er entweder noch unvernünftiger, als ich annahm, oder er ist nicht länger Herr seiner Sinne. Innerhalb der Mauern mögen die Revinorer denken, sie seien frei. In Wahrheit leben sie dann in einem Gefängnis, hinterden wahrscheinlich turmhohen Zinnen der Fuíl Vahogath. Sie werden ein Leben von Lukathers Gnaden fristen.«
»Und das wäre töricht«, sagte Mellow nachdenklich. »Aber warte. Nicht Herr seiner Sinne – da war doch eben was. Schrieb Tulsin nicht etwas von die Sinne betören ?«
Circendil suchte und fand die Stelle. »Du hast Recht: Ich wünschte, Ihr hättet uns mehr als nur eine Sinyanhwe überlassen, die die Sinne betört. Sinyanhwe!«, wiederholte er und runzelte die Stirn. » Ich habe einen solchen Ausdruck noch nie gehört. Ebenso wenig wie Simorgh. Dieses Wort wird zumindest wie ein Titel gebraucht; aber das andere? Was mag es bedeuten?«
»Ganz gleich, was es bedeutet, es betört jedenfalls die Sinne«, sagte Mellow. »Ich wette, diese Nande Gimilruën
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