Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
vorwärts!«
Finn rief Inku, der ohne Zögern herbeihechelte. Auch er schien froh darüber zu sein, diesen unglückbehafteten Ort zu verlassen. Die Gefährten sprangen auf die Ponys und lenkten sie zur nächsten Steingasse. Sobald sie die Findlinge hinter sich hatten, versetzten sie die Tiere in Galopp.
So schnell sie nur konnten, ritten sie auf ihrer eigenen und der Spur der Landhüter zurück.
Sie holten die fünf Vahits noch vor der Dorfhecke ein und preschten wortlos an ihnen vorbei.
Der kalte Wind bauschte die Mäntel der Landhüter und trieb sie gleichsam wie unförmige Glockengebilde vor sich her. Der Staub, den die Hufe der Ponys aufwarfen, machte es nicht besser,und alles vereinigte sich über ihren Köpfen zu einer lehmfarbenen Wolke, in der sie beinahe verschwanden.
Finn glaubte, Gasakan hinter sich heftig husten und niesen zu hören, aber er hielt die Augen stur geradeaus gerichtet und drehte sich nicht nach den Rotbehüteten um.
Taram zu sehen, vor allem aber sein unter dem Hut hervorquellendes Haar, das im selben Goldton schimmerte wie das seiner Schwester – dieser Anblick, so kurz er war, versetzte Finn einen jähen Stich, dessen Schmerz anschwoll, ehe er sich versah. Er verwandelte Finns Eingeweide, wie nach einem heftigen Schlag, in ein sich verkrampfendes Gewirr bösartiger Schlingen. Ihm schien, als wären seine Gedärme wütende Schlangen geworden, die in seiner Magengrube aufeinander einbissen. Sein Herz schlug plötzlich bis zum Hals. Der Kragen wurde ihm eng und schnürte ihm den Atem ab.
Für den Augenblick wurde ihm alles zu viel.
Ein gellender Schrei formte sich tief in seiner Kehle, etwas, das er noch nie zuvor verspürt, ein Drang, den er nie zuvor erlebt hatte. Hinauskreischen, hinausbrüllen wollte er all seine Verzweiflung, seine Angst, und nicht zuletzt seine unbändige Wut! Wie ein ihn erstickender Pfropfen hing das Gefühl in seinem Schlund, wie ein gallegetränkter Lappen drückte und quälte es ihn. Schon riss er den Mund auf, holte Luft, sein Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung und Pein – er keuchte, ein dumpfes Stöhnen entrang sich seiner Brust –, nur der Schrei wollte und wollte und konnte doch nicht hinaus. Inku in seinem Arm fiepte, doch er hörte es nicht.
Der Tod seiner Mutter! Die schweigenden Grabhügel! Der unsägliche, klägliche Anblick seines Vaters! Und dann Tallia! Wie konnte sie ihm das nur antun? Verlobt, mit einem Brango Grauschnäpper aus Salzbuckel! Der Gestank des Todes! Das allseits vergossene Blut, das ihn seit sechs Tagen auf Schritt und Tritt verfolgte, und an dem sich immerfort und überall nur Fliegen gütlich taten. Panuffels so liebevolle, nunmehr gebrochene Augen! Saisárasars lauernde Gegenwart im Nacken! Die erlittenen Feuer von Ulúrcrum! Amuuls Schrecken! Das grelle Irrlichtern der Dunbluód. Schmerzen. Das Gefühl jähen Fallens. Das mitleidlose Peitschen von Criarg-Schwingen, die er selbst noch in seinen Träumen hörte – alles dies brach und stürzte plötzlich über ihm zusammen!
Und noch während er keuchte und an dem Pfropfen in seinem Halse würgte, liefen ihm mit einem Mal unaufhaltsam Tränen über die Wangen. Aber es waren weder Tränen der Trauer, die ihn erleichtert hätten, noch Tränen der Wut, die ihn eben noch geschüttelt hatte; sondern solche einer stillen, einsamen, namenlosen Hoffnungslosigkeit. Eiswasser, dessen rinnende Bäche sein Gesicht verbrannten.
Finn bemerkte nicht die besorgten Blicke, die Mellow und Circendil sich und ihm zuwarfen, während sie durch Aarienheim bis an dessen südliches Ende ritten. Zu dicht war der Schleier, der sich um ihn gelegt hatte.
Er hielt an, wenn sie anhielten. Und er saß ab, wenn sie absaßen.
Warum, wozu – es kümmerte ihn nicht. Leere erfüllte ihn, und in die Leere starrte er. Eine Weile stand er einfach nur da: am südlichen Broch vorbei irrte sein Blick hinaus in die grauen Tiefen der Schattenfenne. Derweil verhandelte Mellow mit dem Verwalter des Postlerstalls. Circendil stellte sich stumm neben Finn und drückte sanft dessen Schulter. Ob es diese Berührung war oder ob eine seltsame heilende Kraft vom Arm des Davenamönchs auf Finn überging, wusste er später nicht zu sagen. Aber der Anfall ging vorüber. Sein Blick klärte sich, und er sah zu Circendil hinauf und nickte.
»Gut«, hörte er den Mönch leise sagen. »Gut. Solange es noch Herzen gibt, die einen Verlust betrauern können, solange dürfen wir hoffen. Solange gibt es noch das
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