Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
es.
Am nächsten Augenblick hing sein Leben.
Er erhob sich vollends und trat über die Sattelkante hinaus. Der Vogel schien das geringe Gewicht des Vahits nicht zu bemerken. Der dicke Hals blieb starr vorangestreckt, und Finn kam sich auf ihm dennoch vor wie auf einem viel zu schmalen, noch dazu auf und ab schwankenden Ast.
Es wirbelte ihm im Kopf, flimmerte vor seinen Augen und summte ihm in den Ohren. Der Flugwind war zudem kräftiger, als er erwartet hatte, jetzt, da er stand und ihm eine größere Fläche bot. Die reißende Luft zerrte an seinen Haaren und erschwerte ihm das Atmen. Wieder traten Tränen in seine Augen, und er wischte sie frei, während er bedrohlich schwankte.
Endlich konnte er wieder sehen.
Die linke Hand fest am Sattelhorn, zog er mit der anderen vorsichtig Maúrgin hervor. Er beugte sich soweit herab, wie es sein Haltearm nur zuließ. Der Hals des Criargs bewegte sich mit dem Schlagen der Schwingen leicht auf und nieder. Finn wusste genau: Ergriffe ihn jetzt ein Taumel, so war es um ihn geschehen. Er streckte den Schwertarm so weit es ging voraus – und zögerte.
Er tat, was er sich vorgenommen hatte, keinesfalls zu tun: Er blickte schaudernd in die Tiefe hinab. Da war ihm, als wolle sich alles um ihn drehen und ihn mit aller Macht hinabziehen. In seiner Not heftete er seinen Blick auf den schimmernden Karbeol, der vor seinem Gesicht unterhalb seiner Faust hervorlugte. Ein seltsames Licht meinte Finn darin zu sehen, gelbgolden schien es und tröstlich wie ein aufdämmernder Morgen nach durchstandener Nacht. Ob es dieses Licht war oder etwas anderes, Finn jedenfalls spürte eine Veränderung, noch während er darauf starrte. Der Schwindel verging. Finns klare Sinne kehrten zurück. Sein Atem beruhigte sich, der fliegende Puls begann sich zu beruhigen. Mitten im Kern seiner Angst bildete sich ein Flecken kaltblütiger Ruhe, die ihn selbst erstaunte. Eisern hielt er Maúrgin fest, und seine Finger umklammerten das Sattelhorn.
Beide Arme fast bis zum Zerreißen gespannt und weit ausgestreckt, vermochte er mit der Spitze den unteren Lederriemen dicht am Halsring zu berühren. Finn nahm allen Mut zusammen. Er beugte sich noch eine Winzigkeit weiter vor, führte die Klinge zweimal um den Zügel herum und zog ihn langsam zu sich heran.
Die notdürftige Wickelung hielt.
Das Lederband bewegte sich zwar, aber es rutschte nicht durch. Er hob das Schwert an und das freie Ende des Zügels flatterte auf die freie Hand zu, wo ein Finger genügte, es an den Griff zu drücken. Mit äußerster Behutsamkeit steckte er nun Maúrgin zurück in die Scheide und wand sich dabei den Zügel um seinen freien Arm.
Finn gönnte sich ein winziges Aufatmen und ein Aufflackern von Hoffnung.
Doch noch befand er sich in tödlicher Gefahr. Ein winziger Fehltritt, ein unbeabsichtigtes Schwanken, eine unvorhersehbareBewegung des Criargs konnten jederzeit den Absturz und seinen sicheren Tod bedeuten.
Finn schloss für einen Atemzug die Lider.
Wieder würde er einen Augenblick lang auf dem schwankenden Hals aufrecht stehen müssen.
Schon spürte Finn seine Kraft erlahmen. Ihm tat die Hand weh, mit der er sich am Sattelhorn festhielt, die Knöchel begannen zu beben, also durfte er keinen Moment lang mehr zögern. Er richtete sich auf, umgriff mit beiden Händen das Horn und zog sich Fingerbreit für Fingerbreit in den Ledersitz zurück.
Endlich, nach einer Zeit, die ihm wie Stunden vorkam, lag er wie zuvor bäuchlings da, doch nunmehr im Besitz zweier Zügel. Die Versuchung war groß, erst einmal auszuruhen und in der trügerischen Sicherheit des glattgesessenen Sattels neuen Atem zu schöpfen.
Aber jeder Flügelschlag brachte ihn weiter und weiter fort; und so zog er erneut Maúrgin hervor.
Er hangelte neben sich nach dem Griff der baumelnden Axt; und als er ihn glücklich umfasste, umklammerte er ihn so fest es nur ging.
»Fast hätte ich dich vergessen«, murmelte er. »Hoffentlich bist du das alles wert!«
Dann zerschnitt er den Knoten, der sie noch hielt.
Das Gewicht von Glimfáins Waffe riss ihn wiederum fast vom Sattel herunter.
Nur mit größter Mühe verhinderte er ein Abrutschen. Er lag jetzt auf dem Bauch, die Beine gespreizt zu einem Halt, der keiner war.
Das Axtblatt zerrte schwer an seiner linken Hand und drohte, ihn vollends an der linken Flanke herabzuziehen. Mit der Rechten erreichte er indes die Schwertscheide nicht mehr. Er musste sich Maúrgin zwischen die Zähne klemmen, um die Klinge
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