Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
glaube ich. Und das da!«
Etwas glitschte – und polterte dann dumpf neben seinem Kopf wie ein Eisen, das man auf eine nachfedernde Diele warf.
Als Finn sich die Augen freirieb, entdeckte er, dass er nicht erwachte und auch nicht träumte, sondern bäuchlings auf einem roh aus Knüppeln gefertigten Holzsteg lag. Um ihn und den Steg herum war nichts als Sumpf und mehrere ineinander übergehende moorige Tümpel unter einem Dach aus schattigem Bruchwald. Der Steg endete unweit seiner Füße in einem schwarzglänzenden Weiher; in der anderen Richtung zog er sich krumm und schief durch Schilffelder und Farndickichte in ein ungewisses Nirgendwo. Abertausende Frösche quakten allenthalben, und die Luft summte von Insekten. Irgendwo kreischte eine Elster. Er zuckte zusammen, und jetzt erst erst wurde ihm bewusst, dass er nicht alleine war.
Drei Vahits betrachteten ihn neugierig. Zwei Braunhaarige und der dritte mit weißem Haar und reichlich zerfurchtem Gesicht, dessen Falten von vielen Lebensjahren herrührten. So kauerten die drei um ihn herum; zwei junge Vahits, wenn auch einige Sommer älter als Finn, und ein krummbeiniger Greis mit wirren Haaren, die nun schlammbespritzt waren.
»Wo bin ich, und was ist passiert?«, fragte Finn, als die größte Atemnot vorüber war und seine Brust sich nicht mehr keuchend hob und senkte.
»Na, du bist lustig! Wenn du es nicht weißt, wie sollen wir das wissen?«
Diesmal sah Finn den Alten reden, und er erkannte in ihm den bisherigen Sprecher. Finn musste blinzeln, weil ihm Wasser in die Augen rann, als er sich aufsetzte. Sein Blick flog von dem Alten zu den beiden jüngeren Vahits und zurück, und als habe ihm das Blinzeln mehr als nur Dreck und wimmelnden Schlamm vertrieben, kehrte die Erinnerung mit einem Schlag zurück.
»Gevatter Ridibund!«, entfuhr es ihm. »Bist du es wirklich? Und auch ihr? Wigo? Buffo?«
Die drei Vahits blickten einander an, ehe der Alte antwortete: »Hm, tja. Mag sein, mag auch nicht sein. Wer will das denn wissen?«
»Wieso? Erkennst du mich denn nicht? Ich bin’s doch, Finn Fokklin! Furgos Sohn!«
»Soso«, machte der Alte, und es klang nicht freundlich. »Na ja. Ich kenne Herrn Finn nicht allzu gut, aber ich weiß, was ich weiß: Er ist ’n ordentlicher Vahit, der auf seine Kleidung achtet, was immer man sonst über ihn sagen könnte. Schau dich dagegenan – du siehst aus wie ein Sumpfotter, der sein Fell vernachlässigt. Du stehst geradezu vor Dreck. Und der Herr Finn, den ich meine, das lass dir sagen, geht selten im Moorreeter Bruch spazieren, was heißen soll – er macht einen großen Bogen darum, wenn du mich verstehst. Einen sehr großen Bogen. Und du bist nicht mal einfach nur hier im Bruch spazieren gegangen! Du bist gleich ganz und gar aus dem Himmel gefallen, mit reinstem Ach und Krach und was weiß ich nicht noch mit allem. Womit wir bei dem Merkwürdigsten überhaupt sind! Wieso wirfst du dich von einem der höchsten Bäume in den Sumpf und bindest dir zuvor eine schwere Axt an den Gürtel? Ich bin kein zartfühlender Mann, frag meine Frau – aber sein Leben gewaltsam zu beenden ist eines Vahits unwürdig! Es ist eine verabscheuungswürdige Sünde, Herr Schlamminger, oder ich kenne keine! Alles das täte der Herr Finn nicht, von dem du sprachst. Also mach uns nichts weiter vor! Wer bist du?«
Finn unterdrückte ein Seufzen.
Ridibund Rohrammer war das, was die Hüggelländer einen schwierigen Vahit nannten: Eigenbrötlerisch war er wie nur einer und griesgrämig bis ins Mark seiner knochigen Finger. Er ging kaum aus und dann selten unter Leute, nicht mal zur Einkehr in den Verlorenen Henkel , Konkho Zeisigs Gaststube. Und das war auffällig und gab Anlass zu allerlei Mutmaßungen. Ein jeder in Moorreet schaute mehrmals in der Woche auf ein Frischgezapftes bei Konkho vorbei – ein jeder, bis auf Ridibund; vielleicht mochte er kein Bier, oder, was wahrscheinlicher war, er braute im Verborgenen sein eigenes. Ridibund hatte auch wenig Freunde, jedenfalls keinen, den man kannte. Und wenn es noch mehr Anlass für Mutmaßungen bedurfte, so war das zweifelsohne das hohe Aufkommen an Briefen, die an die Adresse der Rohrammers gingen.
Alles das schoss Finn fast gleichzeitig durch den Sinn, und da er einmal mit Denken begonnen hatte, fragte er sich umso drängender, woher nur seine nicht enden wollenden Schmerzen rührten. Dann erinnerte er sich an den Vorwurf, den Ridibund ihm gemacht hatte.
Er rang sein Zittern nieder
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