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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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nicht zu verlieren. Er biss darauf, bis ihm vor Anstrengung die Kiefermuskeln bebten. Er fühlte Tränen aus den Augenwinkeln rinnenund blinzelte sie fort. Ob der Wind sie nun verursachte oder ob er vor Enttäuschung weinte. Es war einerlei.
    Erst als er mit beiden Händen zufassen konnte, schaffte er es, die schwere Axt zu sich heraufzuziehen. Mit einem Stück des Zügels, das er abschnitt, band er sich die Axt an den Gürtel. Zur letzten Sicherheit schob er ihren Stiel unter seinen Leib.
    Er sicherte sein Schwert, ehe er das neugewonnene Zugband vom Sattelhorn löste: jenes, das in dem Ring an der Kehle des Tieres befestigt war.
    Behutsamer als bei seinem ersten Versuch holte Finn eine Handbreit des Leders zu sich heran. Dann vorsichtig eine weitere. Der Kopf des Vogels wurde sanft nach unten gezogen.
    Wieder folgte der Criarg dem so erhaltenen Befehl. Gehorsam spreizte er die Federn seiner Schwingen. Das Geräusch des Windes wandelte sich. Der Criarg schwebte nun ohne mit den Flügeln zu schlagen, als warte er, was man ihm auftrug.
    Finns hüpfender Magen verriet ihm, dass es in der Tat langsam, aber beständig abwärtsging. Finn sah unter sich einen verschlungenen Flusslauf in der Sonne glitzern, seltsam klein und unwirklich. War das die Mürmel? Nein, wohl eher die Räuschel, denn sie flogen immer noch nach Südwesten. Ob er es wagen und noch einmal den anderen Zügel einsetzen durfte? Noch behutsamer als vorhin zog Finn an dem anderen Band, und der Criarg setzte zu einer langen Linkskurve an, während er seine Flügel ausgebreitet hielt und weiterhin dem Boden entgegenschwebte.
    Der schillernde Fluss blieb zurück. Die Sonne umtanzte ihn, aber falsch, wie Finn glaubte. Sie umwanderte ihn, bis sie irgendwann über seiner rechten Schulter hing: jetzt strahlend hell und einen warmen Herbsttag verkündend, jedenfalls für jene, die Zeit für ihre Botschaft hatten.
    Finn hatte sie nicht.
    Er verlor allen Richtungssinn und ließ den linken Zügel durchhängen. Beständig ging es tiefer.
    Formlose Wälder huschten unter ihm vorbei.
    Eilende Bäche. Kuppen von Hügeln. Wipfel, die näher und näher kamen.
    Finn sah Rauch aus unsichtbaren Schornsteinen aufsteigen. Aber vielleicht täuschte er sich auch, und er sah nur dünne Schlieren von Wolken oder Reste des vergehenden Nebels.
    Immer deutlicher erkannte Finn die oberen Äste der Bäume, und er begriff erst im letzten Augenblick, dass der Criarg hier nie und nimmer würde landen können. Er war kein kleiner Vogel, der sich irgendeinen Zweig aussuchte, um sich darauf niederzulassen. Er brauchte freies Feld dafür, aber Finn sah weit und breit nur die Kronen engstehender Bäume, die dicht unterhalb der Klauen des Criargs davonhuschten.
    Und ich kann ihn nicht nach oben lenken.
    Der Criarg schrie.
    Es blieb Finn verborgen, ob es eine Warnung war oder ein Ausdruck von Ärger, weil er gezwungen war, allzu dicht über den Bäumen dahinzurauschen. Und abermals schrie er, diesmal in vollem Zorn: Seine Flügelspitzen strichen schon über die obersten Zweige. Wütend begann der Vogel, die Luft zu peitschen, um wieder sichere Höhe zu gewinnen. Dennoch streifte eines seiner Beine mit einem dumpfen Schlag einen dickeren Ast, was ihm einen dritten, diesmal schmerzerfüllten Schrei entriss. Aus dem geradlinigen Flug wurde ein Wackeln, dann ein kurzes Taumeln.
    Ein für Finn höchst gefährliches, mehrmaliges Durchbiegen des gefiederten Rückens folgte. Muskeln, Knochen oder die harten Röhren der Federn drückten gegen Finns Hände, die immer noch den Sattelrand umklammerten. Im nächsten Moment wurden seine Finger durch eine heftige Seitwärtsbewegung fortgewischt. Einen fürchterlichen Augenblick lang schwebte Finn frei. Dann knallte er mit dem Gesicht hart auf das Sattelleder. Der Axtstiel unter ihm quetschte seine Hüfte, als er zurückprallte. Ein plötzlicher, noch widerlicherer Geruch entstieg den Federn   – der Criarg verspürte zweifellos Angst angesichts der Ungeschicklichkeit seines Lenkers.
    Der Körper bockte auf. Der Schnabel ruckte nach oben, ein wütendes Keuchen entfuhr dem aufgerissenen Rachen.
    Die gewaltige Krone einer Eiche geriet in Finns Blickfeld. Sie wölbte sich über allen Wipfeln   – eine Königin des Waldes, ebenso streng wie stark und unnachgiebig wie ein Fels. Der hilflos taumelnde Vogel hielt genau auf sie zu.
    Auch der Criarg sah das Hindernis.
    Den rechten Flügel riss er in die Höhe, den linken drückte er nach unten. Sein Rücken krümmte

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