Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Stellen ihr Auge erfreut, denn es war Herbst, und die noch nicht ganz verblühten Heidsträucher fingen das Sonnenlicht ein und wurden zu violett-bunten Flecken im Gebräun entlang der zahllosen Schründe.
In der Nacht aber sahen sie nicht mehr davon als formlose Buckel und gezackte Grate inmitten von flüsternden Schatten. Dann und wann hörte Finn das Seufzen und Knarzen der Bäume, wenn der Nachtwind sich in ihnen fing; und einzelne Steine lösten sich immer wieder und bröckelten aus Gründen herab, die ihnen verborgen blieben, obwohl sie mehr als einmal anhielten, lauschten und einmal gar zu Schwert, Wacala und Landhüterstab griffen. Aber mehr als rieselndes Geröll und kollernde Laute begegnete ihnen nicht.
Die Straße blieb verlassen. Die Kretelheide behielt ihre Geheimnisse.
Die wie Schichten aufeinanderdrückenden Steinmassen warfen das Geklapper der Ponyhufe dafür hohl zurück – ein gleichförmiges und zugleich einschläferndes Geräusch, das Finn auf den letzten fünf oder sechs Meilen sehr zu schaffen machte. Mehr als einmal drohte er, darüber einzunicken.
Es war weit über zwei Stunden nach Mitternacht, als sie endlich, todmüde und mit vom Reiten schmerzenden Gliedern, Vierstraß erreichten.
Von Norden, von der Räuschelfurt und von den Höhen der Kretelheide her, kam die Mittelstraße nach ihrem weiten Bogen herab, und hinter Vierstraß war Mittort ihr nächstes Ziel.
Hier, zu Füßen des Kretelberges, kreuzte sie die Gaustraße. Diese nahm ihren Anfang tief im Süden: im Hauptort des Untergaus, im fernen Sturzbach. Sie zog sich zunächst nördlich ein Stück am Sturz entlang, ehe sie hinter Aarienheim nach links abschwenkte und von da an immerzu nach Westen strebte: über den Kreuzungspunkt bei Vierstraß hinaus nach Muldweiler und immer weiter, immer höher hinauf in die Berge, bis ganz nach Obermuld und Zarten im Hohengau.
Vierstraß war kleiner als Mechellinde, aber um einiges größer als Moorreet. Und dieses Brada hatte einen bedeutenden Vorteil – befand Finn – gegenüber seinem Heimatdorf: Beide Straßen führten nicht nur bis zum Herzen des Bradas hin, sondern hindurch .
Natürlich war der Name irreführend.
Denn Vierstraß war mitnichten der Ausgangspunkt von vier Straßen; aber wer auf dem Dorfplatz stand und seinen Blick in die Ferne schweifen ließ, der sah eben vier Wege davonführen, einen in jede Himmelsrichtung, und so war der Name schon in alter Zeit geboren worden. Es gab keine Dornenhecke oder Mauer, die diesen Blick hätte verwehren können. Die in der Kretelheide heimischen Füchse mieden die Ansiedlung, nachdem sie die Bekanntschaft mit den Fallen der Jäger gemacht hatten, und andere Feinde kannten die Vahits nicht – bisher. Die höchste Erhebung der Kretelheide lag an ihrer Südflanke, unter der sich die Gaustraße dahinzog: Das war der Kretelberg, vor dem die Mittelstraße ihre nach Westen zeigende Kurve beendete und wieder zu ihrer ursprünglichen Richtung nach Süden zurückkehrte.
Jetzt, zu dieser späten (oder vielmehr sehr frühen) Stunde lag das Brada in tiefem, arglosem Schlummer. Zu Mellows und Circendils Ärger hatte es anscheinend niemand für nötig befunden, wenigstens an den Dorfzugängen Wachen aufzustellen, obwohl die Nachrichten vom Eindringen der Gidrogs die Vierstraßler schon während des Samstagabends erreicht haben mussten.
Nur das allen Schenken vorgeschriebene Licht des Gasthauses brannte einsam über dem in schöner Schrift und sauber in Gold und Blau bemalten Wirtshausschild, auf dem sich der Kopf und die vier Flügel einer Mühle zeigten. Dieses Zeichen war dem Firmenwappen der Werkstatt Fokklinhand nicht unähnlich, nur dass die hiesigen Flügel gebogen waren. Darunter stand in geschnitzten, goldfarbenen Lettern:
GASTHAUS ZUR TAUMELNDEN MÜHLE,
INH. TIMAN KOWAL
Ein Fäustel baumelte an einer Kette neben einer eisernen Triangel, was mehr als ein bedeutsamer Hinweis war: Die Kowals waren einst, etwa zu Maltet Fokklins Lebzeiten, die bekanntesten Schmiede des Hüggellandes gewesen, und ihr Ruf war seitdem nicht geringer geworden. Noch immer gab es die berühmte Kowalhöhle in der Nähe von Wasserfels, und noch immer entstanden dort Arbeiten, die sich sehen lassen konnten: hauptsächlich Riegel, Schlösser und Türangeln, aber auch schönste Schmiedeeisen für solche, die derlei Zierrat mochten (und ihn sich leisten konnten); mit das Beste, was die Handwerkskunst der Vahits zu leisten vermochte.
Die Eingangstüren der
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