Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Sache.«
Er kratzte sich das Kinn. »Ich sehe Hüte mit Sonnenblumen, das bedeutet, ihr seid in öffentlichem Auftrag unterwegs. Ihr wisst also mit Sicherheit mehr als wir hier am Kretelberg. Postreiter kamen jedenfalls am Samstag durch und berichteten atemlos verwirrende Dinge – von einem Rat und einem Menschen , der einfach so den Alten Weg heraufmarschiert kam. Stellt euch das mal vor! Er soll unserem verehrten Vahogathmáhir sogar gedroht haben!«
»Das ist überhaupt nicht wahr!« Finn konnte nicht glauben, was er da hören musste.
»Gedroht wurde jedenfalls, soweit ich mich erinnere«, zischelte Bholobhorg.
»Wie auch immer«, fuhr der Wirt fort. »Ich kann nur wiedergeben, was man mir berichtet hat. Sechs Reiter waren’s, die sich hier trennen wollten. Sie hatten kaum Zeit für ein Bier und wollten weiter, obwohl es schon dunkelte.
Gedroht? , frag ich also verwundert. Wie in den bösen alten Zeiten?
Aber einer unserer Landhüter hat Schlimmeres verhütet , antwortet man mir.
So? , sag ich. Das muss ja ein prächtiger Kerl sein. Wer ist es?
Jemand aus Rudenforst, höre ich, der Sohn des dortigen Wirts, und ich nicke beifällig. Aber beim Namen des Dorfes zittern ihre Stimmen.
Was stimmt nicht mit Rudenforst? , frag ich also.
Sie sehen sich betreten an und blicken zu Boden, worauf ich ihnen anbiete, meinen Hammer zu holen, wenn sie nicht endlich weitersprechen.
Alles ist aus den Fugen geraten , sagen sie. Mechellinde steht Kopf. Sie berichten, man rufe jetzt alle kräftigen Burschen aus dem ganzen Hüggelland zum Kriegsdienst zusammen, was man kaum glauben mag. Deshalb seien sie auch auf dem Weg.
Krieg im Hüggelland? , frag ich. Wirklich Krieg?
Ja , antworten sie, und Rudenforst ist abgebrannt. Und schonsind sie wieder weiter, auf frischen Ponys, die ich ihnen aus dem Poststall geben musste.
Schließt eure Läden des Nachts , rufen sie zum Abschied, und stellt Wachen aus! Besonders des Nachts!
Wachen? , frag ich noch lachend. Aber da waren sie schon fort. Wachen!, denk ich noch. Unfug. Vierstraß ist immer ein ruhiger Ort gewesen, und so soll’s bleiben. Da mag mir nur einer kommen.
Aber – von wegen ruhig.
Jedenfalls sind heute zwei Reisegruppen eingetroffen: eine am Nachmittag, aus Obermuld oder einigen Gehöften dahinter, glaub ich; eine weitere aus dem Süden, aus Wasserfels. Oder war’s Unterlaich? Na, jedenfalls kamen die nach Einbruch der Dunkelheit hier an, um eben noch rechtzeitig vor dem Wolkenbruch hier Unterschlupf zu finden. Einundzwanzig einkehrende Vahits auf einen Schlag, wo hat man sowas schon gesehen? Alle dazu mit Messern und Sensenblättern bewaffnet, einige sogar mit Bögen, du liebe Güte! Allesamt junge Grünspechte, die einen Radau ohnegleichen aufführten. Am Ende musste ich sogar Galad hier wegsperren. Und das gefiel ihm gar nicht. Murrte ganz schön, der Gute, das könnt ihr mir glauben. Er ist’n wirklich guter Hund, ganz vernünftig und alles. Aber dieser Lärm war selbst für ihn zu viel.«
Timan Kowal beugte sich vor und tätschelte erneut den Kopf des Rüden. »Hat gute Ohren, der Junge, ja ja, Galad, is ja gut! Wo war ich? Ach ja, die Grünspechte! Sie schwatzten den ganzen Abend über von lauter unnützem Zeug! Von künftigen Abenteuern und Heldentaten und Siegesmahlen war die Rede, dass ich nicht lache! Und alle verlangen ein Einzelzimmer, als wäre nichts leichter als das. Ha! Den krummen Nagel haben wir ihnen schnell gezogen. Jetzt quetschen sie sich zu zweit in die Betten und schnarchen, was das Zeug hält. Hört ihr’s? Recht so, sag ich, nachdem sie vorher entschlossen schienen, meine Fässer trocken zu saufen, du meine Güte!«
Erschöpft hielt der Wirt inne und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. In seiner Aufregung hatten sich Strähnen seines schwarzen Haares über die Augen geschoben. Im Übrigen scheint er reden zu können wie ein rinnendes Fass, dachte Finn.
»Aber damit hat es sich«, sagte Timan. »Leider. Ich mein, alle Betten sind jetzt belegt, sogar mein eigenes. Ich könnte euch höchstens …«
»… die Scheune anbieten?« Er wurde von Circendil unterbrochen, der einen Schritt machte und damit in den Lichtschein trat. Finn kannte ihn inzwischen gut genug, um zu spüren, wie er des langen Geredes allmählich überdrüssig wurde. »Wir nehmen es gerne an. Nur sputet Euch.« Er hob die Hand zum Gruß und deutete eine Verbeugung an.
Timan Kowal fuhr vor Schreck zurück. »Alle Wetter! Wer ist das denn? Ich meine, wer
Weitere Kostenlose Bücher