Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
glücklich überstandenen Gefahren hatte er bisher kein derart sorgenvolles Gesicht gezogen wie in dieser Nacht. Finn kannte ihn lange genug, um zu ahnen, was seinen Freund so quälte. Es war nicht die Furcht vor dem vor ihnen Liegenden, was Mellow zögern ließ – er war kein Feigling und hatte dies hinreichend bewiesen.
Aber er wusste seine Brüder ohne Nachricht von dem neuerlichen Überfall, und er erfasste mit seinem scharfen Verstand in vollem Umfang die schwere Aufgabe, die den beiden von den Scepmáhin aufgetragen worden war. Wie sollten sie das Hüggelland verteidigen, wenn sie nicht einmal erfuhren, wo und mit welchen Folgen der Feind zuschlug? Nun, das war das eine. Ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer, war die Ohnmacht, der sich Sahaso und Kampo derzeit noch gegenübersahen: Selbst wenn sie Nachrichten darüber erhielten, dass und wo ein Übergriff stattfand, so konnten sie im Augenblick wenig mehr tun, als es bitter zur Kenntnis zu nehmen. So lange es noch keine ernst zu nehmende Vahitwehr gab, waren den Rohrsangbrüdern die Hände gebunden. Oder vielmehr, dachte Finn, sie waren ihnen noch nicht einmal gewachsen.
Dieses alles ging Mellow sicherlich ebenfalls durch den Kopf; wäre Finn nicht so entsetzlich müde gewesen, so hätte er ihm gewiss Worte des Trostes oder zumindest des Verständnisses zugesprochen. Doch schon bei der Suche nach den richtigen Begründungen zerfaserten sich Finns Gedanken, und das leise Schmatzen des schlafenden jungen Hundes ließ sie vollends zerstieben.
So folgten sie allesamt schweigend dem Mönch, der ihnen ruhig vorausritt und als Einziger nicht zu ermüden schien. Über sein Bein sprach er nicht mehr; aber er saß merkwürdig schief auf seiner Satteldecke; und das verletzte Bein hielt er steif gestreckt.
Die Mittelstraße zog sich unter den Hufen der Ponys dahin wie ein graues Band. Ein wenig kam es Finn vor, als habe er mit dem Durchwaten der Räuschelfurt bereits das Hüggelland verlassen; zumindest jenen Teil, den er von Kindesbeinen an kannte undliebte, der für ihn das eigentliche Hüggelland war und der an der Räuschel endete. Dabei befanden sie sich erst in den Südbereichen des Obergaus. Aber Finn erging es jedes Mal so, wenn er in den Süden reiste. Die Gegend diesseits des Flusses wirkte auf ihn schlagartig fremder, deutlich anders beschaffen als die sanfthügelige Landschaft um Mechellinde; selbst im Sternenlicht war dies unübersehbar. Andere Bäume wuchsen ab hier am rechten Ufer: kaum noch Schwarzpappeln, fast keine Moorbirken mehr, nur wenig Eichen, dafür allerlei niederes Gehölz; Kreuzdorn, dessen fauliger Geruch in ihre Nasen drang, Grünerlen, süßlich duftende Felsenbirnen, Asch- und Purpurweiden, Feldahorn und Elsbeeren.
Schon bald, nachdem sie Räuschelfurt hinter sich gelassen hatten, ging es durch schroffe Hügel und tiefe, karstige Einschnitte, die fast schon Schluchten zu nennen waren. Nach einer halben Stunde beständigen Bergaufstolperns gelangten die Reiter an den Rand einer Ödnis namens Kretelheide; ein Gebiet voller aufgeworfener, geschichteter Felsenzungen und schrundiger Klippen, die sich wie ausgefahrene Krallen eines tausendtatzigen, unter dem Hüggelland schlummernden Fabeltieres durch die dünne Krume bohrten.
Selbst zu Fuß und bei Tageslicht hätte die Bodenbeschaffenheit jeden Schritt zu einem Wagnis gemacht. Nicht ohne Grund führte die Mittelstraße in einem langen Bogen um die Kretelheide herum. Indem sie ihr folgten, ritten sie in Wahrheit einen großen Halbkreis. Ein Vogel wäre zwischen der Furt und dem nächsten Brada nicht mehr als fünf oder sechs Meilen geflogen. Aber einen schnurgeraden Weg gab es nicht: Die Straße wand sich kurz hinter Räuschelfurt einen Abhang hinauf und bog dann scharf nach Osten ab, ehe sie ihre weite Kurve nach Süden beschrieb, die gar nicht mehr enden wollte, bis sie schließlich sogar für ein weites Stück zurück nach Westen führte.
Auf diese Weise umlief die Straße das unzugängliche, unfreundliche und felsige Gelände, in dem niemand außer Vögeln und Füchsen wohnte. In sandigen Mulden wuchs Heide in dichten Feldern. Dazwischen krallten sich krüppelige Kiefern an hochaufragende, spitze, meist von Hagebuttensträuchern oder Schwarzdorn umsäumte Steine, die sich zu verwitterten Klippen aufschwangen. Über die Höhen hinweg wucherten ganze Felder langdorniger Disteln und üppige, wilde Brombeeren ohne Zahl.
Bei Tag hätte der Anblick der Kretelheide zumindest an manchen
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