Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
zurückgekehrt, aber Buenos Aires ist etwas ganz anderes als diese gepflasterte Schwermut mit Blick aufs Meer. Ich war dankbar für die Hölle seiner Straßen, für die anonymen Gespräche, das Röhren der Busse. Wer vergessen will, sucht sich besser eine Stadt, die überquillt von Bauarbeiten, Politskandalen und Polizeisirenen, von Leuten, die mit einer Unzahl von Absichten vorwärtshasten. Ich ließ mich von den Schaufenstern verlocken, vom Wiedersehen mit alten Freunden und von einem halben Dutzend Büchern, die ich in einer Buchhandlung in Palermo gekauft hatte, zwei davon jedoch auf der Rückfahrt im Schiff liegen ließ.
Zu Hause hatte ich eine Nachricht von Nina auf dem Anrufbeantworter. Eva war in Montevideo gewesen, sie wollte Bilder verkaufen und hatte ihr aufgetragen, meinen Rat einzuholen. Ich rief zurück, und sie erzählte mir, Eva habe das Sáez-Porträt schätzen lassen, aber die Summe sei niedriger als Wandas Angebot. Ihr wollte es Eva aber nicht verkaufen, und deshalb sollte Nina mich fragen, ob ich einen Interessenten kannte.
In dick aufgetragenen Farben zeigte Waldemars Ölbild ein Mädchen mit kränklichem Gesicht vor einem Hintergrund in fleckigem Ocker. Seiner Vermutung nach stellte es Julieta de la Fuente dar, dieFrau des Dichters Julio Herrera y Reissig. Er hatte mir alte Aufnahmen von Julieta gezeigt, damit ich den Mund, den Zauber ihrer großen Augen vergleichen konnte, und die Ähnlichkeit war frappierend, doch Sáez war 1901 gestorben, und Julio hatte Julieta erst einige Jahre später kennengelernt. Hansen meinte, ihr Porträt hätte sehr gut früher entstanden sein können als das Herrera-Bild, das der Argentinier Eduardo Constantini erworben hatte und das ich mir, zum Gedenken an unsere Gespräche, gerade im Malba angesehen hatte, doch das hielt ich für unwahrscheinlich: Julieta gehörte nicht zu dem Patrizierkreis, den Sáez besuchte. »Montevideo ist schon immer ein Dorf gewesen, warum soll er sie nicht in einem Laden kennengelernt haben oder bei einer gemeinsamen Freundin?«, hielt er dagegen. Ob es nun Julieta de la Fuente darstellte oder nicht, das Bild war für Hansen ein Grundstein gewesen, und ich hatte in einem bescheidenen Winkel des Museums, vor dem Porträt Julios, daran denken müssen, in der trügerischen Hoffnung, dass Eva von den Sachen ihres Vaters das Bildnis des Mädchens behalten würde.
Nina betonte, dass Waldemar es nie im Leben seiner Schwester verkauft hätte, und ich bat sie um Evas Mailadresse, ich würde mich umhören und den Kontakt herstellen, wenn ein Interessent auftauche. Sie gab sie mir, und eine Pause entstand, ihre Stimme wurde ernst, als sie mich fragte, was Walli mir über das Kreuz erzählt habe. Niemals hatten wir über einKreuz gesprochen, doch aus Schwäche sagte ich: nicht viel. Daraufhin stammelte sie etwas, was ich nicht verstand, und fügte hinzu, Walli habe Angst davor gehabt. Was auch immer er mir erzählt habe, er sei wie besessen davon gewesen.
Das war der erste Hinweis darauf, dass Hansens Geheimnisse womöglich etwas Krankhaftes an sich hatten. Der zweite kam zwei Wochen später von seiner Schwester. Wanda rief mich an, um mir eine Audienz zu gewähren. Ich fragte sie nach dem Grund, doch sie weigerte sich, am Telefon darüber zu sprechen, und so musste ich für eine Verabredung dankbar sein, um die ich nicht gebeten hatte, und ging eines Nachmittags zu ihrem Haus in Carrasco, umfriedet von kahlen Zypressen, mit riesigem Garten zwischen Villa und Zaun und einem Wachhäuschen an jeder Ecke. Das Dienstmädchen führte mich in ein Büro mit weißen Möbeln, weißem Teppich und weißen Wänden, an denen zwei Originalzeichnungen von Rodin hingen. Sie ließ mich in einem Sessel zurück, und die Minuten, die Wanda auf sich warten ließ, verbrachte ich in der Angst, zu beschmutzen, was immer ich anfasste. Eine Fensterfront ging auf den Garten, die dicken Scheiben warfen das Licht zurück, doch man konnte nach draußen sehen, und obwohl die Februarsonne herunterknallte, war das Büro eine Kapsel voll frischer Luft, was den Gedanken nahelegte, dass Wandas Leben niemals mit etwas in Berührung kam, was ihr unangenehm war.
Sie trat durch eine Seitentür herein, setzte sich, reichte mir eine schlaffe Hand und fragte, wie viel Lerena biete, der Freund, den ich mit Eva in Kontakt gebracht hatte. Sie trug eine Seidenbluse, Perlenohrringe, und ihr nackter faltiger Hals hielt ihren Kopf mit der Nüchternheit eines Sockels. Sie sah mir starr in die
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