Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
beteuerten beide und lehnten sich zurück, während die Frau sich auf den Tisch stützte.
»Wir waren mit dem Herrn hier zusammen, haben ihn zum Friedhof begleitet«, sagte Jonathan und deutete beidhändig auf mich. Da maß mich die Frau mit einem Blick, richtete sich langsam auf, musste eingestehen, dass sie mich nicht kannte. Sie hatte eine welke Haut, war jedoch hübsch, vom Muttermal auf ihrer rechten Wange ging ein Beben aus, das sie mit einem Schnauben zu steuern versuchte. Ich wusste nicht, wer Teresa war oder was man mit ihr getan hatte, und als die Augen der Frau immer härter wurden und die Stille im Lokal immer tiefer, wäre ich fast aufgestanden, nickte stattdessen jedoch langsam. Da beschimpfte sie mich, nannte mich »Schafskopf«, biss sich auf die Lippen und stieß Drohungen aus, bis der Wirt und ein weiterer Mann sie bei den Armen nahmen und zur Tür hinausschoben.
Die beiden Jungen entspannten ihre Beine unter dem Tisch, und als von der Bar erneut die Stimmen herüberdrangen, nahm Jonathan die Mütze ab, schlug sie auf die Tischdecke und setzte sie wieder auf, den Schirm nach hinten. Der andere beugte sich zu mir und lehnte sich wieder zurück, als hätte ichetwas Witziges gesagt. Sie warteten ein paar Minuten, zogen eine entschuldigende Grimasse, und bevor ich wusste, wie mir geschah, gab Jonathan mir erneut feierlich die Hand und lief seinem Freund hinterher.
Von dem Ärger mit der Frau erfuhr ich am nächsten Morgen, als mir der Herbergsbesitzer sagte, der Friedensrichter habe nach mir gefragt, ich solle bei ihm vorbeigehen. Er erklärte mir den Weg. Die Nacht über hatte ich keine weitere Ablenkung gefunden und musste mir ausmalen, zu welchen Grausamkeiten wohl ein Junge fähig ist, der in einer Zweitligamannschaft triumphieren will, die gerade mal über eine Koppel verfügt, eventuell mit Wasserhahn, Umkleidekabine und Fanclub, und ich stellte mir vielerlei Weisen vor, auf die er seine Jugend womöglich missbrauchte, so dass ich bis zum Morgendämmer kein Auge zutat. Ich konnte mir kaum erklären, wie unüberlegt ich ihn in Schutz genommen hatte, ihn und seinen Freund, und als der Mann mir die Nachricht des Friedensrichters weitergab, ließ ich ihn sogleich mit dem Regal allein, das er zusammennagelte, und machte mich Richtung Riesenrad auf, ohne großes Vertrauen in mein Schicksal. Als ich ein paar Ecken weiter am Polizeirevier vorbeikam, gesellte sich ein gedrungener Mann mit ausladendem Strohhut zu mir, der lächelte, als hätte man ihm gerade einen guten Witz erzählt.
»Schöner Tag für einen Rundgang«, sagte er undwiegte den Kopf. »Viel gibt es nicht zu sehen, aber etwas finden Sie bestimmt. Viele interessieren sich für die Stollen unter dem Dorf, wissen Sie.«
Obwohl er alt aussah, schritt er mit dem Schwung eines Soldaten am Abmarschtag aus, in der Hand eine Aktentasche.
»Man könnte meinen, bei all den Löchern hier müsste es Verrückte zuhauf geben, aber so viele sind es gar nicht. Da, sehen Sie«, er bestand darauf, dass ich an den Straßengraben trat. »Hinter der Mauer mit der Heckenkirsche wohnt die Frau, die gestern im Club so respektlos zu Ihnen war. Gisela heißt sie. Sie hat eine Tochter und eine Kuh. Die Tochter ist stumm, und die Mutter redet merkwürdig daher, aber es sind keine schlechten Leute. Sie verkaufen die Milch«, sagte er, während er mich am Ellbogen nahm und auf die Straße zurückführte. »Eine Mutter mit fünf Kindern hat allen Grund, in die Milch zu spucken, die man ihr nicht verkauft. Das war der Streit zwischen Jonathans Tante und Gisela, aber der ganze Ärger reicht noch viel weiter zurück, und wenn man sich ansieht, was sie mit Teresa gemacht haben …«
Er bückte sich und hob einen Stein auf, drehte ihn vor den Augen und gab ihn mir.
»Das Gelbe ist Limonit, sehen Sie? Wenn Sie den Stein zerschlagen, finden Sie Gold. Jetzt sind Sie ein reicher Mann!« Er lachte und ermunterte mich zum Weitergehen. Er war mir ein Stück voraus, gab sichaber Mühe, auf mich zu warten. Es sei während der Siesta geschehen, erzählte er, mit einem Büstenhalter, die erstickten Schreie des Mädchens hätten die Mutter geweckt.
Eine halbe Minute lang, vielleicht auch länger, verschmolz das Knirschen der Kiesel unter den Sohlen mit dem Gekreisch der Papageien in den Eukalyptuswipfeln. Der Mann bemerkte wohl, dass ich bleich geworden war, denn er wandte mir sein unrasiertes Gesicht zu und musterte mich eingehend. Er zog die dichten weißen Brauen hoch, kratzte
Weitere Kostenlose Bücher