Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
sich am Kinn und sagte:
»Üble Sache. Wenn Sie so nett sind und mich begleiten … keine Sorge wegen Ihrer Verabredung, ich will Ihnen etwas zeigen.«
Wir nahmen einen Lehmweg, der sich zu einem Pfad verengte, kletterten über ein paar Felsen zu einem kleinen Vorsprung hinab, von dem aus man die Schlucht überblicken konnte: Steine und Gestrüpp, weiter hinten der Bach und mitten im Bach eine grün angemalte Kuh. Jonathans Freund schrubbte mit einer Bürste ihren Rücken, ein Polizist saß auf einem Stein und rauchte eine Zigarette.
»Teresa …«, sagte ich erleichtert.
Er nickte und schubste mit dem Schuh ein paar Steine weg.
»Um den Euter haben sie ihr einen Büstenhalter gebunden, der an Giselas Wäscheleine hing.«
Ich war froh, kein Verbrechen gedeckt zu haben,wusste aber immer noch nicht, worauf der Richter hinauswollte. Wir durchquerten ein Wäldchen mit Zedrachbäumen, übersprangen einen Straßengraben und gelangten zum Hühnerstall eines bescheidenen Häuschens. Der Richter umrundete das leere Gehege, verscheuchte einen der Hunde, die mich zum Friedhof begleitet hatten, und bat mich in eine Küche voll schmutzigen Geschirrs, darin auch ein Bett, zwei alte Sessel voller Bücher und ein Holzofen. Er forderte mich auf, die Bücher beiseitezuräumen und mich zu setzen, doch nach einem kurzen Blick auf die Unordnung griff er sich zwei Gläser, holte einen Krug Wasser aus dem Kühlschrank und führte mich durch das Arbeitszimmer, das nach vorne hinausging, zu ein paar Eisenstühlen, die unter einem Zedrachbaum standen.
»Ich bin Carlos Brauer«, sagte er, nachdem er uns eingegossen hatte, »und Sie?«
»Wenn das so ist, muss ich wohl ein Betrüger sein«, sagte ich, und er reichte mir die Hand.
»Keine Angst. Ich habe Ihren Namen aus dem Gästebuch der Herberge. Man nennt mich Beppo.«
Er lehnte sich zurück und trank einen Schluck Wasser.
»Die Farbe haben sie einem Nachbarn geklaut«, sagte er wie zu sich selbst, »aber jetzt muss sie abgewaschen werden.«
Ich wartete darauf, dass er mir meine Lüge im Lokal vorwerfen würde, doch er saß auf seinem Stuhlund schwieg beharrlich, so dass ich von der schlimmen Nacht erzählte, die ich hinter mir hatte.
»Das kann ich mir denken. Ich hätte auch keine Ruhe gefunden.«
»Ich bin froh, dass sich alles aufgeklärt hat.«
»Nun ja, nicht alles. Gleich muss ich mit dem Kommissar los und Jonathan und das stumme Mädchen suchen, wo immer sie stecken mögen.«
Er sah mich von der Seite an und fügte hinzu:
»Sie heißt Sandra und hat, scheint’s, ihren Romeo gefunden. Wenn Sie so nett wären und mir jetzt sagen, in welcher Beziehung Sie zu Jonathan stehen, könnte das hilfreich sein.«
Ich erzählte ihm von unserer knappen Unterhaltung auf dem Weg zum Club und wie sehr mir seine salbungsvolle Art, sich zu verabschieden, gefallen hatte.
»Man kann verstehen, dass er das Dorf verlassen will, aber auf das Wie kommt es an. Er ist kein schlechter Junge; ein Träumer, mag sein. Der Vater sitzt in Melo im Gefängnis, und der ist auch kein schlechter Kerl. Er hat in San Gregorio gearbeitet, sagt Ihnen das etwas?«
»Ich habe von der Straße aus die Lastwagen gehört.«
»Ein Loch von vierhundert Metern Durchmesser und über hundert tief. Selbst nachts sind sie dort, jeden Tag im Jahr, denn für zwei Gramm Gold muss eine Tonne Granit gewälzt werden. Klingt nachWahnsinn, aber sie verdienen mehr als die Engländer zu Zeiten meiner Urgroßmutter. Sandras Vater, Aiache, hat auch in San Gregorio gearbeitet.«
»Aiache?«, unterbrach ich ihn.
»Vielleicht haben Sie gehört, dass nach Fertigstellung der Eisenbahnstrecke die Schienenarbeiter von Riveras Standesamt übernommen wurden, ohne jegliche Beziehung, sagen wir mal, zu einem Schreibgerät oder höchstens zu dem, mit dem man Schwellen markiert. Sie brachten es wohl nicht fertig, den Rumänen einzutragen, und schrieben auf Spanisch nur die Initialen aus.«
Da parkte ein Jeep vor dem Haus, und ein Mann, den ich nicht erkennen konnte, hupte mehrmals.
»Trinken Sie in Ruhe Ihr Wasser aus«, sagte der Richter, während er aufstand. »Hören Sie auf mich, machen Sie sich einen schönen Tag, und am Abend treffen wir uns im Club.«
Ich sah ihm nach, er stieg mit dem Hund in den Jeep und hinterließ eine Staubsäule auf der Straße. Ein trockener Wind verwirbelte sie zwischen den Bäumen wie eine Woge Licht aus dem Steinmeer ringsum. Ich hatte nichts weiter auf diesem Stuhl unter dem Zedrachbaum zu tun, lehnte
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