Der verlorene Sohn von Tibet
wovon hängt das ab?«
Surya hob den Kopf und entblößte lächelnd eine Reihe schiefer gelber Zähne. »Davon, ob du Chinese oder Tibeter bist«, sagte er und kicherte krächzend. »Genosse«, fügte er hinzu und lachte erneut.
Shan schlug sich enttäuscht eine Hand vor die Stirn. Er sprach nicht mit Surya. Der Mann hier vor ihm war ein völlig anderer, so wie es laut Lokesh mit Leuten geschah, die vom Blitz getroffen wurden. »Wie kann ich die Lamas schützen, wenn ich die Geheimnisse nicht erfahre?«
»Es ist nicht geheim. Es gibt lediglich keine Worte dafür. Nur Götter können es einander erklären. Menschen bleibt das verwehrt.« Die Worte, die dem alten Mann über die Lippen sprudelten, schienen diesmal nicht von ihm zu stammen. Er sah zutiefst verwirrt aus, beinahe schockiert, und berührte seine Zunge mit einem Finger. Seine Schultern sackten herunter, als verließe ihn der Mut.
Shan stand auf und machte einen Schritt auf den Stall zu. Zwei der Männer dort erhoben sich und versperrten den Eingang.
Shan drehte sich wieder zu Surya um. »Was ist mit Kwan Li geschehen?« fragte er.
Surya vollführte eine merkwürdige Spiralbewegung gen Himmel. »Etwas Wunderbares.«
Für einen Moment musterte Shan ihn. Sein Verhalten entsprach nicht mehr dem Mönch, den Shan gekannt hatte, sein Gesicht schien neue Falten aufzuweisen, und sogar sein Blick war anders, trauriger, irgendwie abgestumpft. »Wer ist der Steindrachen-Lama, der Kwan Lis Ermordung befohlen hat?«
Surya zuckte die Achseln. »Der Vorsteher von Zhoka gompa .« Er starrte ins Leere.
»Was wurde in Zhoka versteckt?«
Surya zuckte erneut die Achseln. »Das wissen nur die Mönche.«
»Du bist ein Mönch.«
Als Surya den Kopf schüttelte, lag ein neuer Ausdruck auf seinem Antlitz. Nicht Traurigkeit. Mitgefühl, als tue Shan ihm leid. »Er hätte es vielleicht herausgefunden, falls er dageblieben wäre. Aber«, sagte Surya seufzend, »er ist während der Feier gestorben.«
Shan griff in die Tasche und gab Surya den Pinsel, den er seit dem Festtag bei sich getragen hatte. »Nur einer ist gestorben, nämlich Lodi«, erklärte Shan und bemühte sich verzweifelt, nicht so hilflos zu klingen. »Der Mann, den du in dem Tunnel gesehen hast. Er war ein Dieb. Ich glaube, du hast ihn auf frischer Tat ertappt. Vielleicht hat es ja Streit oder einen Unfall gegeben.«
Der alte Tibeter betrachtete den Pinsel in seiner Hand, als habe er noch nie einen gesehen. Dann steckte er ihn ein und stand auf, wobei er sich kurz auf eines der Kinder stützte. »Ich muß nun los und die Erde düngen«, verkündete er und ging in Richtung der Fahrräder und Karren davon.
Es kostete Shan große Anstrengung, den Wagen zu erreichen, so als würde ein großes Gewicht auf seinen Schultern lasten. Als Yao losfuhr, schob Surya bereits einen der Handkarren die Straße entlang. Auf der Ladefläche standen vier übergroße Keramiktöpfe.
»Hat er diesen Berggott gekannt?« fragte der Inspektor.
»Er kennt überhaupt keinen Gott mehr«, flüsterte Shan besorgt.
Shan brauchte gar nicht erst zu fragen, wohin sie nun fahren würden. Yao schlug die Richtung zum höchsten Gebäude der Stadt ein und trat das Gaspedal durch, als habe er es plötzlich besonders eilig, die Bezirksverwaltung zu erreichen. Während der Inspektor den Wagen in der Nähe des Vordereingangs parkte, wurde Shan auch der Grund für die Hast klar: Es war noch so früh am Morgen, daß niemand bei der Arbeit sein würde, vor allem nicht die anderen leitenden Offiziere und Beamten. Eine perfekte Gelegenheit, um auf diverse Computerund Telefone zugreifen zu können. Sie mußten die restlichen Dokumente einsehen und das zweihundert Jahre alte Geheimnis ergründen, von dem Ming so besessen war.
Der Posten am Eingang nickte Yao zu, bedachte Shan mit einem verächtlichen Blick und winkte sie durch. Als Yao im Aufzug den Knopf der obersten Etage drückte, protestierte Shan unwillkürlich. »Es gibt dort oben Computer«, erklärte der Inspektor, während die Kabine sich langsam in Bewegung setzte. »In dem Besucherraum neben Tans Büro.«
Als die Türen aufglitten, eilte Yao sofort auf die zentralen Büroräume zu. Shan verharrte auf dem Korridor und mußte gegen ein jähes Schwächegefühl ankämpfen. Hier oben war er zum erstenmal Oberst Tan begegnet, hier hatte Tan ihn gezwungen, erneut als Ermittler zu arbeiten, und hier auf dem Gang hatte Tan ihm dann unvermittelt seine Freiheit zurückgegeben.
Schließlich folgte Shan
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