Der verlorene Sohn von Tibet
Bergbuddha. Sie sind dazu in der Lage. Womöglich als einziger.«
Shan sah Ming ruhig an. »Was haben Sie mit Surya gemacht, als Sie ihn in den Bergen getroffen haben?«
»Gar nichts. Wir haben uns über Kunst unterhalten. Ich habe ihm erzählt, daß ich Gemälde sammle und mehr Kunstwerke besitze, als er je zu Gesicht bekommen hat.«
»Haben Sie sich als Abt ausgegeben?«
Ming lächelte wieder. »Man muß mit diesen Leuten auf eine Art und Weise sprechen, die sie verstehen. Ich konnte mich doch nicht einfach als Museumsdirektor bezeichnen, oder?« Er schien sich über Shans enttäuschte Miene zu freuen.
Shan erkannte plötzlich, wo sie sich befanden und auf welche Straße sie zuletzt eingebogen waren. Ihm schnürte sich die Kehle zusammen. »Das ist doch nicht …«, protestierte er undsank unwillkürlich tiefer in den Sitz. Diese Straße führte nur zu einem einzigen Ort. Zur 404. Baubrigade des Volkes.
»Doch, doch«, versicherte Ming wiederum amüsiert. »Der Oberst sagte, es sei sehr günstig gelegen. Sicher. Versteckt. Nahe bei den Kalfaktoren und den Soldaten.«
Zwei Minuten später erreichten sie ihr Ziel. Shan stellte fest, daß er mit einer Hand seinen Unterarm umklammert hielt, genau über der lao-gai -Tätowierung.
Fünfzig Meter vor dem Stacheldrahttor des Gefangenenlagers hatte man ein einzelnes großes Militärzelt errichtet. Daneben standen vier Armeelaster und wurden mit Ausrüstungsgegenständen und Kartons beladen. Shan zwang sich, aus dem Wagen zu steigen. Dann wollte er eigentlich die Vorräte in Augenschein nehmen, doch sein Blick wanderte immer wieder wie von selbst zu dem Lager. Shan suchte sich einen Fleck im Schatten der vorderen Ecke des Zeltes, hockte sich hin und beobachtete das umzäunte Gelände.
Die meisten Sträflinge befanden sich im Arbeitseinsatz und rodeten immer noch das Gebiet bei den Klippen am anderen Ende des Tals, aber die Kranken, Verletzten und Sterbenden hatte man wie üblich zurückgelassen. Auf dem Hof zwischen den Baracken humpelten mehrere Gestalten umher. Sie trugen verschlissene Monturen, die entfernt an Pyjamas erinnerten, und hielten sich sorgfältig von der weiß gekalkten Linie fern, die im Abstand von drei Metern parallel zum Zaun verlief und eine Todeszone kennzeichnete, die keiner der Häftlinge betreten durfte. Shan wurde fast von seinen Gefühlen übermannt. Da drinnen lebten Männer, die er kannte, einige der tapfersten, stärksten und zugleich heitersten Männer, die ihm je begegnet waren. Sie hatten ihn geschützt, ihm ein neues Dasein geschenkt und die Welt, in der er lebte, für alle Zeit verändert. Die Männer waren noch immer dort, in Lumpen, halb verhungert. Vor Shans innerem Auge blitzten Bilder auf: ein alter Mann, der mit eingetretenen Zähnen am Boden lag, weil man ihn mit einer Gebetskette erwischt hatte; ein junger Mönch, dem man in den Kopf schoß, weil er gegen den Direktor protestierte; Lokesh, der mit zwei alten Lamas im Schnee saß undfür die Seelen der Aufseher betete. Plötzlich fand Shan sich auf der anderen Straßenseite wieder, wo er im hohen Gras stand und den Arm nach einem gebeugten Sträfling ausstreckte, der sich an den Gebäuden vorbeischleppte. Er wollte einen Gruß rufen, aber es wurde bloß ein Schluchzen. Ein Stück abseits kam Hektik auf, und einige Wärter liefen fluchend auf ihn zu. Aus irgendeinem Grund wirkten sie fern und unbedeutend, trotz des wütenden Klangs ihrer Stimmen. Shan ging weiter auf den Zaun zu und betrat die äußere Todeszone. Er mußte den Gefangenen unbedingt in die Gesichter sehen.
Ein Schlagstock traf ihn in die Kniekehlen. Er stürzte zu Boden und rollte sich instinktiv zusammen, drückte das Kinn auf die Brust, zog die Knie an und verschränkte die Hände im Nacken. Nach einer Weile wurde ihm klar, daß nichts weiter passierte, kein Knüppel auf seinem Kopf oder Rücken landete und kein Stiefel ihn trat. Er blickte auf und sah zwei Wachposten über sich stehen und grausam lächeln. Ein Stück dahinter hatten sich weitere Schaulustige versammelt, ein halbes Dutzend Soldaten, mehrere Kapos. Und Yao. Als Shan aufstand, wich der Inspektor in den Schatten zurück, als solle Shan nicht bemerken, daß er alles gesehen hatte.
»Idiot«, knurrte einer der Aufseher.
»Noch ist es nicht soweit, Shan«, zischte der andere. »Wir haben einen Platz für dich freigehalten. Du kommst bald wieder.« Er stieß Shan auf das Zelt zu, klopfte seinem Kumpan lachend auf den Rücken und kehrte mit ihm zum
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