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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Karren durch eine Gasse schob. Es hätte Surya sein können – oder einfach nur irgendein tibetischer Bauer, der seine karge Ernte zum Markt brachte.
    »Um Ihnen zu helfen, bräuchte ich eine Karte der Stätten, die Sie sich vornehmen wollen. Das alte gompa , die Höhlen.«
    Ming zuckte die Achseln. »Jeder Teamführer hat bereits eine«, sagte er, zog ein Blatt aus einem Ordner, der neben ihm lag, und reichte es Shan. »Sie können mein Auge sein. Es gibt neue Anhaltspunkte. Irgendwo in den Bergen befindet sich ein riesiger goldener Buddha. Ich will ihn, Shan. Finden Sie ihn für mich, und Sie bekommen Ihr neues Leben.«
    Lag es an seiner Arroganz oder nur an seinem politischen Ehrgeiz, daß er so blind war? dachte Shan. »Ich werde ihn finden, bevor alles vorbei ist«, versprach er.
    »Hervorragend. Unser kleines Geheimnis.«
    »Aber Miss McDowell weiß doch sicherlich Bescheid.«
    »Unser kleines Geheimnis«, wiederholte Ming.
    Was zwischen den Tibetern in den Bergen vorging, mochte durchaus schwer zu verstehen sein, überlegte Shan, aber was die Fremdlinge in Lhadrung taten, würde er wohl niemals ganz begreifen. »Alle Macht basiert auf Geheimnissen«, stellte er fest.
    Ming warf ihm einen belustigten Blick zu. »Zum Beispiel?«
    »Geheime Gebete. Geheime Höhlen. Geheime Briefe des Kaisers. Ein verschwundener geheimer Brief, der eine Verbindung zwischen Lhadrung und dem Raub des Pekinger Wandgemäldes herstellt.«
    Ming nahm den Fuß vom Gas und sah Shan argwöhnisch an. »Wegen der Inkompetenz der Pekinger Polizei.«
    »Sie sind derjenige, der das Schreiben entdeckt und gedeutet hat.«
    »Das ist kaum überraschend. Die Restaurierung des Hauses war mein Projekt. Eine Stunde nach Meldung des Diebstahls befand ich mich bereits am Tatort.«
    »Aber es ist doch ein seltsamer Zufall, daß Sie ausgerechnet dann diesen Brief gefunden haben.«
    »Ganz im Gegenteil. Hinter dem Fresko lag eine kleine Wandnische, die ursprünglich zu dem Raum auf der anderen Seite gehört hatte, aber irgendwann zugemauert worden war.«
    Ming hatte ihm soeben verraten, woher die geheimen amban -Papiere stammten, begriff Shan. »Sie haben gesagt, der Brief beweise, daß es sich bei dem Diebstahl um ein politisches Verbrechen handelt. Aber dann hätten die Diebe sich doch eigentlich an die Öffentlichkeit wenden und irgendeine Erklärung abgeben müssen.«
    Ming zündete sich eine Zigarette an. »Wir haben ihnen Angst eingejagt und sie zur Flucht in die Hügel veranlaßt. Sie halten sich vorerst versteckt. Die Tatsache, daß Sie Lodi gefunden haben, ist ein zusätzlicher Beleg dafür.« Er blies Shan eine Rauchwolke entgegen.
    »Lodis Mörder sind noch immer da oben.« Shan behielt Mings Gesicht im Auge.
    »Mörder?« Der Direktor lächelte matt. »Es liegt längst ein Geständnis vor. Vielleicht habe ich versäumt, Sie davon zu unterrichten. Ich ließ es abtippen und unterzeichnen. Von Surya und zwei anwesenden Zeugen, beides Armeeoffiziere. Nur für den Fall.«
    Shan starrte ihn fassungslos an. »Nein«, sagte er kühl. »Es waren ein großer Mongole namens Khan, der süßliche Zigarren raucht, und ein kleiner Han-Chinese namens Lu.«
    Ming verringerte abermals das Tempo. Er wirkte nicht beunruhigt, sondern nur leicht erregt. »In Anbetracht Ihres großen Scharfsinns wundert es mich, daß ich Ihnen die Zusammenhänge erklären muß, Genosse. Sie sind derjenige, der bestätigt hat, daß Lodi tatsächlich getötet wurde. In meinem Besitz befindet sich ein unterschriebenes Geständnis von Surya, der aussagt, er habe in den Bergen einen Mann ermordet. Es besteht kein Anlaß zu weiteren Ermittlungen. Sie haben alles Notwendige getan und das Verbrechen nachgewiesen. Nun muß ich nur noch eine offizielle Akte anlegen, das Geständnis samt meiner zugehörigen Aussage einreichen, und schon landet Surya vor einem Erschießungskommando.«
    Die Botschaft war unmißverständlich: Falls Shan weiterhin Khan und Lu nachsetzte, würde Ming dafür sorgen, daß Surya hingerichtet wurde. Die beiden Männer waren zwar in irgendeiner Weise Mings Widersacher, aber der Direktor konnte es sich dennoch nicht erlauben, sie verhaften zu lassen. »Was genau soll ich tun?«
    »Das habe ich bereits gesagt. Arbeiten Sie für mich. Haben Sie an meinem Reichtum teil. Beweisen Sie sich in den Bergen. Die Mönche haben präzise Aufzeichnungen über ihre Tätigkeit hinterlassen. Das war schon vor zweihundert Jahren so. Bringen Sie mir diese Unterlagen. Finden Sie den

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