Der verlorene Sohn von Tibet
Stunde. Der andere wird zur Unterstützung zurückbleiben, und die Gruppe schicken wir weiter. Ich finde den Weg zum gompa .«
»Ziemlich dürftiger Plan«, sagte Yao. Dann zuckte er die Achseln. »Ich habe empfindliche Knöchel«, fügte er leise hinzu.
Eine Viertelstunde später blieb der Soldat an der Spitze der Kolonne stehen und hob warnend eine Hand. Eine Gestalt rannte ihnen in hohem Tempo entgegen, stolperte, sprang über Steine, schaute über die Schulter und lief dann so schnell wie möglich weiter. Shan vermutete, daß es sich um einen der Hirten handelte, der den Suchtrupps ausweichen wollte. Der Soldat beobachtete die einzelne Person durch sein Fernglas, stieß einen Fluch aus und bedeutete den anderen, sich hinter den Felsen am Wegrand zu verstecken.
Nach etwa einer Minute wagte Shan einen vorsichtigenBlick. Die Gestalt hatte sie nun fast erreicht. Sie trug eine schwarze Wollmütze und eine schmutzige grüne Armeejacke. Fünfzehn Meter vor Shan sprang der Soldat aus seinem Versteck und hieb dem Unbekannten den Schaft des Gewehrs an den Kopf. Der Mann wankte, fiel zu Boden und verlor seine Mütze. Es war Ko.
Shan war sich gar nicht bewußt, daß er panisch hervorstürzte und über das lose Geröll den Pfad hinaufeilte. Er fand sich plötzlich an der Seite des Jungen wieder, barg dessen Kopf auf dem Schoß und tupfte ihm das Blut der Platzwunde ab.
»Verdammter Ausbrecher«, knurrte der Soldat und griff nach dem Funkgerät.
Die Lider seines Sohnes öffneten sich zitternd. Seine Augen zuckten ziellos umher und richteten sich einen Moment lang auf Shan. Dann schien er Shan zu erkennen und stieß angewidert dessen Hand weg.
»Du blutest«, sagte Shan und mußte um seine Fassung ringen.
Kos Mund verzog sich zu dem üblichen Hohnlächeln. Er richtete sich auf den Ellbogen auf, kroch ein Stück weg und wollte aufstehen. Der Soldat seufzte übertrieben laut und stellte Ko einen Stiefel aufs Bein, um ihn am Boden zu halten. Dann hob er sein Funkgerät.
Shan schaute wie betäubt zu seinem Sohn, streckte die Hand nach ihm aus und zog sie wieder zurück, weil Ko ihn so haßerfüllt anstarrte, als hätte Shan ihm den Schlag versetzt.
»Du begreifst gar nichts«, zischte Ko.
Shan registrierte aufgeregte Stimmen und hob den Kopf. Yao drückte soeben das Funkgerät des Soldaten nach unten. »Sie irren sich«, sagte der Inspektor. »Kein Grund zur Überreaktion.«
»Er ist ein Krimineller, einer dieser Kapos«, widersprach der Soldat. »Und er ist von seinem Team abgehauen. Ein bißchen zuviel Vertrauen. Man hätte sie gar nicht erst einsetzen dürfen. Nach ein oder zwei Jahren hinter Gittern sind sie wie Tiere. Ich könnte ihn erschießen, und niemand würde sich daran stören.«
Shan stand auf und stellte sich zwischen den Soldaten und Ko. Yao warf ihm einen nervösen Blick zu. »Der Mann stammtweder aus Lhadrung noch von der 404ten«, sagte Yao. »Er wurde extra aus Xinjiang gebracht, um uns behilflich zu sein. Und er ist nicht geflohen.«
Shan sah, daß Ko einen scharfkantigen Stein nahm, um offenbar den Soldaten anzugreifen.
»Ich habe ihm befohlen, uns schnellstmöglich aufzusuchen«, behauptete der Inspektor. Ko hielt in der Bewegung inne. »Ich habe mein Navigationsgerät verloren, und er sollte mir aus dem Vorrat ein neues bringen.«
»Wir würden einem solchen Kerl doch niemals einen derartigen Ausrüstungsgegenstand anvertrauen.« Der Blick des Soldaten wanderte ständig zwischen Shan und Yao hin und her.
Yao holte das kleine Lederetui hervor, das seinen Dienstausweis enthielt, und klappte es auf. »Ich schon«, sagte er und streckte Ko auffordernd die andere Hand entgegen.
Ko ließ unauffällig den Stein aus den Fingern gleiten, schaute mit verbissener Miene zu Yao und musterte kurz das Gewehr. Dann griff er in die Jacke, brachte ein handtellergroßes Plastikgehäuse zum Vorschein und reichte es Yao.
Der Soldat war sichtlich verblüfft, betrachtete das Navigationsgerät und dann noch einmal den Ausweis in Yaos Hand. »Jawohl, Sir«, sagte er, nahm den Stiefel von Kos Bein und bedeutete den anderen, den Marsch fortzusetzen. »Jetzt ist er Ihr Problem, Genosse Inspektor«, fügte der Mann verärgert hinzu. »Ich gebe dem anderen Team Bescheid. Die dürften froh sein, ihn loszuwerden. Verbrecher!« Bei diesem letzten Wort war der Blick des Mannes nicht auf Ko, sondern auf Shan gerichtet. Dann schwang er sich das Gewehr über die Schulter und folgte der Kolonne.
Als Ko sich in die
Weitere Kostenlose Bücher