Der verlorene Sohn von Tibet
Tor zurück.
Shan überkam eine seltsame Schwäche. Er setzte sich auf das Trittbrett eines Lastwagens und sah, wie Ming und Oberst Tan sich in einiger Entfernung berieten. Die Beladung der Fahrzeuge ging in hektischem Tempo vonstatten. Shan erkannte mehrere der Wachposten, die sich tags zuvor beim Gästehaus befunden hatten. Einer von ihnen behielt mit stählernem Blick einen schmächtigen Arbeiter im Auge, der die blaue Kleidung eines Kalfaktors trug. Kos Gesicht war noch immer zu einem kalten Hohnlächeln verzogen, und Shan begann sich zu fragen, ob er wohl jemals eine andere Miene zur Schau stellte. Im Moment schleppte Ko einen Karton, bewegte sich langsamer alsdie anderen, schaute sich unauffällig um und musterte die offenen Holzkisten, aus denen Rucksäcke mit Kochutensilien, Schlafsäcken und anderen Vorräten ausgestattet wurden. Dann blickte der Junge verstohlen zu den Wachen.
Ein Kapo, der ein kleines Plastikfaß voll Wasser trug, stolperte plötzlich und ließ den Behälter fallen. Die Nähte des Fasses platzten, und alle Umstehenden wurden mit Wasser bespritzt. Die Posten schrien den Mann an, die Soldaten lachten, und einer von Mings Assistenten kam schimpfend angelaufen, um den Pechvogel zurück an die Arbeit zu treiben. Shan achtete kaum auf die Vorgänge, denn während alle anderen abgelenkt waren, hatte Ko seine Route geändert und sich dem Kistenstapel genähert, wo er mit einer schnellen Bewegung etwas nahm und unter sein Hemd stopfte, ohne im Schritt innezuhalten.
Als Ko seine Last zu einem der Wagen brachte, ging Shan zu der Kiste, die sein Sohn angesteuert hatte. Darin standen offene Kartons mit unterschiedlichen Ausrüstungsgegenständen: Ferngläser, Gürteltaschen, Wasserflaschen, sogar Klappspaten. Aber Ko hatte etwas Kleines genommen. Ziemlich weit vorne lagen robuste Militärkompasse und Taschenmesser. Ko mußte einen Kompaß oder ein Messer gestohlen haben, vielleicht auch beides.
Shan beobachtete, wie sein Sohn sich zwischen den Arbeitern hindurchschlängelte und dabei manche der älteren Männer behinderte, die schwer an ihrer Last zu schleppen hatten. Er stellte einen weiteren Karton auf eine der Ladeflächen, ging an mehreren Soldaten vorbei und hob zwei Finger, bis einer der Uniformierten ihm eine Zigarette und Feuer gab. Mit überheblicher Geste lehnte Ko sich rauchend an einen Laster, beobachtete das Geschehen und sah, daß einer von Mings Assistenten einen Becher mit dampfendem Tee auf einen Tisch stellte. Sofort ging Ko dorthin, schnappte sich in einem günstigen Moment den Becher, nahm ihn zum Lastwagen mit, trank ihn aus und warf ihn unter das Fahrzeug. Dabei wanderte sein schläfriger Blick fortwährend hin und her und blieb nur so lange auf Shan haften, bis Ko eine Rauchwolke in seineRichtung geblasen hatte. Als ein alter tibetischer Kalfaktor direkt vor dem Jungen einen Karton fallen ließ, so daß Butangaspatronen und Konservendosen über den Boden rollten, rührte Ko keinen Finger.
»Ich habe ihn unserer Gruppe zuweisen lassen«, meldete sich unvermutet Yao, der neben Shan aufgetaucht war. »Als Träger. Sie beide hatten noch gar keine Gelegenheit zu einem richtigen Treffen.«
»Nein«, gab Shan schroff zurück. »Kein Treffen.« Er drehte sich zu Yao um und sah, daß der Inspektor soeben einen der Pilgerleitfäden in einem Rucksack verstaute. »Ziehen Sie ihn wieder ab. Schicken Sie ihn weg«, verlangte Shan. Der Schmerz, den er verspürte, war neu für ihn, eine merkwürdige Mischung aus Abscheu, Wut, Angst und Schuld. Und ein unerwartetes Gefühl der Einsamkeit. Keine Liebe, ganz sicher keine Zuneigung, nur eine bohrende Einsamkeit. Er dachte an all die Jahre, in denen er sich Ko als kleinen Jungen vorgestellt hatte, der fröhlich herumlief und mit anderen Kindern spielte, alte Lehrtexte las und an Feiertagen in die Tempel ging, um den Vorfahren Opfer darzubringen, genau wie Shan dies früher getan hatte. Doch der echte Ko war ein brutaler, arroganter Drogendealer. Je größer die Lüge, desto bitterer die Wahrheit.
Kapitel Elf
»Elizabeth McDowell.« Yao sprach den Namen nur widerwillig aus, als wolle er sich am liebsten gar nicht damit beschäftigen. Als der Inspektor in Tans Büro zurückgekehrt war, hatte dort eine weitere Nachricht des FBI gewartet. »Die Amerikaner haben noch einmal alle Ihnen vorliegenden Namen überprüft und mit den Passagierlisten verglichen. Die Frau war die ganze Zeit mit Lodi unterwegs, nicht nur von Peking nach Lhasa, sondern auch
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