Der verlorene Sohn von Tibet
schon von Seattle nach Peking.«
»Sie kannte die Dolan-Sammlung. Lodi brauchte Hilfe«, sagte Shan. Die Neuigkeit überraschte ihn nicht, doch es wunderte ihn, daß Yao so verblüfft wirkte. »Die beiden waren in jeglicher Hinsicht Partner.« Er schaute zurück zum Tal. »McDowell hätte die Ironie der heutigen Ereignisse bestimmt zu würdigen gewußt«, sagte Shan vorsichtig und vergewisserte sich noch einmal, daß niemand sonst sich in Hörweite befand. »Es war eine Art Reminiszenz an Lodi.«
Yao sah ihn fragend an.
»Diese Grabungsstätte war genauso falsch wie manche der Artefakte, die Ming in Peking ausstellt«, sagte Shan leise. »Es war bloß das Fundament eines alten chorten , eines Schreins. Die Bauern im Tal kennen vermutlich ein Dutzend solcher Stellen, die nach der Zerstörung der Schreine unter der Erde verschwunden sind.«
»Aber dieses Gewand und das alte Plakat.«
»Die waren zwar echt, wurden aber absichtlich dort hinterlegt, damit alles authentischer wirkt.«
»Soll das heißen, Ming hat seinen Fund inszeniert?«
»Nein, jemand anders will Ming für dumm verkaufen. Sie wissen, daß Ming gelogen hat, als er behauptete, er habe einen alten Brief des Kaisers entdeckt und sei deshalb davon überzeugt, dasWandgemälde sei nach Lhadrung gebracht worden. Er benötigte einen offiziellen Vorwand, um herkommen zu können. Und jetzt belügt jemand ihn . Vorhin an der Grabungsstelle gab es keine vollständigen Skelette, und viele Leute wissen, wo man alte Schädel und Knochen findet. Das Gewand hatte ich zuvor bereits in den Hügeln gesehen.« Noch während Shan sprach, fragte er sich im stillen, ob er mit diesen Worten sich selbst und womöglich viele andere in akute Gefahr brachte. Er hatte gelernt, Yao bis zu einem gewissen Grad widerwillig zu vertrauen, doch er durfte den Inspektor keinesfalls unterschätzen.
»Falls diese Robe echt ist, müßte sie nahezu unbezahlbar sein. Warum sollte jemand eine solche Kostbarkeit opfern, nur um Ming an der Nase herumzuführen?«
»Um etwas noch viel Wertvolleres zu schützen«, erwiderte Shan. »Ming soll unten im Tal bleiben.«
»Seine Leute brechen in die Berge auf.«
»Die wissen nichts von seinen wahren Absichten. Falls sie etwas entdecken, müssen sie unverzüglich Ming benachrichtigen. Sie stellen für seine Pläne kein Risiko dar.«
»Er wird nicht aufgeben«, sagte Yao. »Nicht, bevor er die Dokumente gefunden hat, die ihm verraten, wo im Norden der Schatz des amban versteckt wurde.«
»Was bedeutet, daß Sie das falsche Verbrechen untersuchen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wir werden die Wahrheit über das Fresko des Kaisers und Dolans gestohlene Kunstwerke erst dann ergründen können, wenn wir das Rätsel um den Tod des amban lösen. Und daher werden wir uns nicht zu der Höhle begeben, die Ming uns zugewiesen hat«, sagte Shan. »Der Kaiser hat uns verraten, wie unser Ziel lautet, und sogar Ming hat es uns eigenhändig gezeigt.«
»Ach ja?«
Shan holte die Karte hervor, die Ming ihm im Wagen gegeben hatte. »Hier sind die Zielorte aller Teams vermerkt«, erklärte er und wies auf eingekreiste Stellen in den entlegenen Bergketten. Ein doppelter Kreis markierte jeden der vermeintlichen Pilgerschreine, die von den neuen Gruppen untersucht werden sollten.»Ming ist überzeugt, daß Lodi aus einem bestimmten Grund ausgerechnet in Zhoka getötet wurde. Sobald er sich in Sicherheit wähnt, wird er dorthin zurückkehren. Allerdings war der kaiserliche Erlaß, der heute bei dem Gewand lag, ebenfalls ein Ablenkungsmanöver, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf Zetrul Puk zu lenken.« Er wies auf einen Ort dreißig Kilometer nördlich von Zhoka. »Von allen Suchgebieten liegt dieses am weitesten von Zhoka entfernt. Wer auch immer die heutige Fundstätte präpariert hat, wollte Ming so weit wie möglich vom Kloster weglocken, um mehr Zeit zu gewinnen.«
»Lodis Mörder müssen immer noch dort sein«, sagte Yao nach einem Moment. »Sie haben sich in den Gewölben versteckt. Corbett wird letztendlich zu der gleichen Erkenntnis gelangen und zu den Ruinen zurückkehren. Aber wir können unmöglich mit all den Leuten dorthin gehen«, sagte Yao mit Blick auf die Marschkolonne vor ihnen. »Die haben Funkgeräte. Falls wir einfach abhauen, werden sie Ming verständigen.«
»Einer von uns wird hinfallen und sich den Fuß verstauchen, und zwar hier«, sagte Shan und deutete auf eine Stelle, wo ein Pfad nach Süden ihre Route kreuzte. »Noch ungefähr eine
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