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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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entgegengesetzte Richtung wenden wollte, stellte Yao sich ihm in den Weg. »Wie er schon sagte, jetzt bist du mein Problem. Ich habe dich wegen deines Vaters gerettet.« Er wies auf Shan. »Das war das erste und letzte Mal. Falls du wegläufst, werde ich niemanden mehr am Schießen hindern.«
    Die Verwirrung war Ko deutlich anzusehen. Er nahm Shan mit verkniffenem Blick in Augenschein. »Scheißkerle«, fluchte er und stapfte den Hang hinauf.
    Eine Stunde später kreuzten sie einen Pfad nach Süden. Kurzdarauf stieß Yao einen Schmerzensschrei aus, setzte sich auf einen Felsen und hielt sich den Fuß. Der Soldat eilte herbei. Shan sprang vor, um den Inspektor als erster zu erreichen. Er schob Yaos Hosenbein hoch und wickelte eilends sein zusammengerolltes Taschentuch um den Knöchel.
    »Verstaucht«, erklärte er dem Soldaten und verschnürte die provisorische Bandage mit einem festen Knoten. »Der Inspektor darf den Fuß heute nicht mehr belasten.«
    Yao befahl sogleich, die Kolonne solle ohne sie weiterziehen. Shan und er würden am folgenden Tag zur Höhle nachkommen.
    »Wir könnten Hilfe gebrauchen«, rief Shan dem Soldaten hinterher. »Vielleicht müssen wir ihn tragen.«
    Der Mann deutete, ohne zu zögern, auf Ko und befahl ihm, Shans und Yaos Rucksäcke mit zusätzlichem Proviant für drei Personen zu füllen. Zehn Minuten später verschwand die Kolonne hinter dem nächsten Berggrat. Yao bückte sich, um den Knoten des Taschentuchs zu lösen. Ko ließ einen der Rucksäcke vor Shan zu Boden fallen.
    »Ihr habt sie angelogen.« In seiner Stimme schwang ein Hauch Neugier mit.
    »Wir haben beschlossen, eine andere Route einzuschlagen«, sagte Shan.
    Yao nahm den Rucksack und stieß ihn in Kos Richtung. »Ich sage dir jetzt, wie es läuft. Falls du abhaust, werde ich mir keine großartigen Gedanken machen, sondern einfach die Armee verständigen. Nicht die Lageraufseher, sondern die Gebirgsjäger. Man wird Helikopter mit Infrarotkameras einsetzen. Falls du Glück hast, erwischt dich vorher ein Schneeleopard. Falls aber die Soldaten dich finden, werden sie dich in einen Hubschrauber stecken und dir einen Freiflug verschaffen. Weißt du, was das heißt?«
    An der Art, wie Ko mit grimmiger Miene den Blick über die zerklüftete Felslandschaft schweifen ließ, erkannte Shan, daß sein Sohn genau verstand, was gemeint war. Dann schulterte Ko den Rucksack, ahmte eine spöttische Verbeugung nach und bedeutete Shan, er solle vorangehen.
    Eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit erreichten sieZhoka und näherten sich angespannt und schweigend. Die Ruinen wirkten ungewöhnlich abweisend. Ein gleichmäßiger Wind strich heulend über die eingestürzten Mauern. Ko zögerte verunsichert. Dann nahm er den Rucksack ab und drückte ihn fest an die Brust, als müsse er sich vor irgend etwas schützen.
    »Es ist ein altes Gefängnis«, sagte Ko, als sie am Rand des Ruinenfelds stehenblieben. »Ich weiß es, ich kann es spüren. Seht es euch doch nur mal an.« Seine Stimme klang plötzlich hohl und leer. Shan hielt unwillkürlich inne und betrachtete alles, als bekäme er es zum erstenmal zu Gesicht: das Labyrinth aus Steinmauern, der Staub, der vom eisigen Wind aufgewirbelt wurde und immer wieder neue, bedrohliche Schatten warf, die schwarzen Flecke, an denen die Zugänge zu den unterirdischen Gewölben lagen. »Sie hatten schon immer Gefängnisse, haben Tausende ermordet«, sagte Ko. »Man kann es fühlen.« Seine Worte waren an keine bestimmte Person gerichtet. Als er aufblickte und Shan zuhören sah, kehrte das Hohnlächeln auf sein Antlitz zurück. Er warf sich den Rucksack über die Schulter und ging an Shan vorbei.
    »Das ist kein Gefängnis, sondern ein Kloster«, murmelte Shan. »Ein Ort der Lamas.«
    Er glaubte nicht, daß sein Sohn ihn gehört hatte, doch Ko rief: »Du bist ein Narr, wenn du nicht merkst, daß dies ein Ort des Todes ist.« Dann ging er weiter.
    Sie rückten am äußeren Rand des Geländes vor, hielten Ausschau und blieben immer wieder stehen, um zu lauschen. Dabei durchquerten sie einige gespenstisch ruhige Stellen, an denen alte Wände den Wind abwehrten. Als ein Pfeifhase vorbeihuschte, duckte Ko sich erschrocken und sah sich mit geballter Faust um. Er schien Shans Blick zu spüren, senkte verärgert den Kopf, richtete sich wieder auf und übernahm sogar die Führung. »Da drüben!« warnte er an der nächsten Mauer. »Da warten Leute in den Schatten. Ein Hinterhalt!« Sie hörten nun ein neues

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