Der verlorene Sohn von Tibet
Geräusch, ein leises, aber gleichmäßiges Raunen.
Shan ging voran und hielt sich dabei im Schatten, bis zwei Gestalten in Sicht kamen, die an einem trüben Lagerfeuer aus Yakdung saßen: ein großer Mann mit braunem Filzhut undschmutzigem Schaffellmantel und auf seinem Schoß ein kleines Mädchen, das er tröstete und sanft auf den Rücken klopfte. Als Shan näher kam, erkannte er, daß der Mann nicht redete oder weinte, sondern summte.
»Brauchst du Hilfe?« fragte Shan leise auf tibetisch.
»Falls das eine Frage nach meinem Befinden war …«, ertönte die Antwort auf englisch. »Eine Pizza und ein Bier wären nicht schlecht.« Die beiden Gestalten waren Corbett und Dawa.
Yao lief zu dem Amerikaner und reichte ihm eine ihrer Wasserflaschen.
Dawa wirkte erschöpft. Sie flüsterte einen Gruß, drehte sich in Corbetts Armen um und legte ihm den Kopf auf die Schulter. Corbett trank und registrierte Shans fragenden Blick. »Ich mußte nach Zhoka zurückkehren, um herauszufinden, warum Lodi hier gestorben ist. Lokesh sagte, er könne mich gut verstehen, aber ich würde mich irren, was den Grund meines Hierseins betrifft. In Wahrheit sei ich wegen der schlafenden Gottheiten gekommen, genau wie er. Er sagte, stell dir ein Haus voll schlummernder Heiliger vor, die in ihren Betten ermordet werden sollen.«
In Corbetts Blick lag eine gewisse Hilflosigkeit. »Lokesh ist nicht hier«, sagte er. »Ich meine, er ist zwar hier, aber gerade nicht bei uns. Wir drei sind gestern angekommen. Er sagte, er müsse hier einen alten Lama finden. Als Lokesh ihn nirgendwo in den Ruinen entdecken konnte, sagte er, dann müsse der Weg wohl unter der Erde liegen. Das ist jetzt mehr als zehn Stunden her.« Der Amerikaner klang besorgt.
»Zum Ort mit dem Blut«, sagte eine gedämpfte Stimme an Corbetts Schulter, »in die Schwärze, wo der Tod wartet.«
»Fiona«, sagte Shan. »Ist sie …?«
»Es geht ihr gut«, sagte Dawa und hob den Kopf. »Aber als sie hörte, daß es mir nicht gelungen ist, Zhoka zu verstehen, hat sie mich mit Onkel Jara zurückgeschickt. Sie sagte, da mir nur eine begrenzte Zeit in den Bergen bleibt, soll ich sie hier verbringen. Doch kaum waren wir angekommen, tauchte auch schon Liya auf und nahm Aku Jara mit. Als ich nach dem Grund fragte, sagte er nur, es sei der Bergbuddha.«
»Hatte er Angst?« fragte Shan.
»Keine Ahnung. Was ist das, Onkel Shan? Was ist der Bergbuddha?«
»Ich weiß es nicht, Dawa«, räumte Shan ein.
Während sie im Schutz eines Mauerwinkels rund um das kleine Feuer ihr Lager aufschlugen, erzählte Corbett, er sei in tibetischer Kleidung aus der Bewußtlosigkeit erwacht. Seine westliche Kluft, der Paß, die Brieftasche und seine Notizen seien verschwunden gewesen, und um seinen Hals habe ein Gebetsmedaillon gehangen. Er sprach ohne jeden Groll und in einem seltsam verträumten Tonfall. »Ich sollte glauben, Sie und Yao seien tot, und ich schätze, manche der Leute waren wirklich dieser Ansicht. Aber am Nachmittag kam Liya zurück und vertraute mir an, daß Sie beide mittlerweile in Sicherheit seien. Sie sagte, sie wisse, daß ich bald aufbrechen müsse, aber ich solle doch bitte verstehen, wie wichtig die Sache mit dem Regenbogen sei, die man über mich gesagt hatte, denn es ginge dabei um eine der grundlegenden Wahrheiten meines Lebens. Sie sagte, auch wenn ich selbst nicht daran glauben würde, so seien doch sämtliche Dorfbewohner davon überzeugt und hätten große Hoffnung daraus geschöpft. Dann hat sie sich für das angeblich unzivilisierte Benehmen entschuldigt und mir einen Beutel gegeben, der all meine Habseligkeiten enthielt. Allerdings hat sie mich inständig gebeten, bis zur Abreise aus Bumpari die einheimische Kleidung zu tragen, um den Leuten ihren Glauben zu lassen. Es stehe mir jederzeit frei zu gehen, und ich könne meinen Aufenthalt dort einfach als kleinen tibetischen Urlaub betrachten.«
»Sie tragen die Kleidung ja immer noch«, stellte Shan fest.
Der Amerikaner lächelte unschlüssig. »Die Sachen sind ziemlich bequem.« Dann fuhr er herum, weil sich hastige Schritte näherten. Ko, der mit Yao nach Feuerholz gesucht hatte, kehrte zurück und versuchte vergeblich, sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen. »Da ist Blut«, verkündete er und wies in die Richtung, aus der er gekommen war.
Dann führte er sie zu der Kreuzung zweier ehemaliger Gassen, wo Yao wartete und die leuchtendroten Tropfen auf einemflachen Stein begutachtete. »Hier Stiefel«, sagte
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