Der verlorene Sohn von Tibet
Augenhöhle. Shan suchte die Wände genauer ab und fand vier weitere Löcher, alle von der gleichen Größe und als Teil der Wandbemalung getarnt. Ein bestimmtes Muster war nicht zu erkennen. Es hätte sich um ein Beispiel dafür handeln können, daß die Erbauer der Anlage Schönheit mit Funktionalität zu vereinen wußten und auf diese Weise Gelegenheiten schufen, um Gewänder, Wedel, Trompeten oder andere Zeremoniengegenstände aufzuhängen. Doch als Shan zurück zum Nordtor ging, entdeckte er im Korridor weitere dieser Löcher. Sie waren in unregelmäßigen Abständen angeordnet, nur drei oder vier alle drei Meter, und so meisterhaft in die Wandgemälde integriert, daß man sie nur bei genauerem Hinsehen erkannte. Zhokas Himmelreich war allein für jene gedacht, die sich den Eintritt sowohl mit Schläue als auch unter Einsatz ihres Glaubens verdienten.
Als Yao und Shan der Biegung des Tunnels nach Süden folgten, stiegen ihnen mehrere Gerüche in die Nase. Shan erkannte Weihrauch, teils jüngeren Datums, zumeist aber schon sehr alt und schal. Es war ein überaus komplexer Duft, denn nach traditionellem Rezept wurde Weihrauch aus zehn oder zwanzig verschiedenen Zutaten hergestellt. Vereinzelt roch es nach Verfall, hier und da auch nach Zedernholz. Und es mischte sich ganz schwach noch etwas hinzu, etwas Fremdes, das nicht zum Tempel gehörte.
»Riechen Sie das auch?« fragte Yao.
Shan nickte. »Tabak. Zigarettenrauch.« Er mußte an die Zigarettenstummel denken, die sie oben nahe der Grabungsstätte gefunden hatten, und an die Zigarrenreste, auf die Corbett bei den Blutflecken gestoßen war. Sie kamen an weiteren Kapellen vorbei, doch anstatt des nächsten Tors fanden sie nur Trümmer vor, und manche davon trugen die gelbe Farbe des Südkönigs.Von oben waren große Deckenplatten herabgestürzt, und man sah gesplitterte Balken, die einst zu einer Treppe gehört haben mochten. Ko blieb verschwunden, wenngleich Shan zweimal glaubte, jemanden weglaufen zu hören. Am liebsten wäre er sofort losgerannt, um seinen Sohn zu suchen. Ihm war schmerzlich bewußt, daß Ko sich vermutlich erneut an den Reichtümern des Tempels vergreifen würde.
Yao ertappte Shan dabei, daß er reglos in die Dunkelheit starrte. »Das war ganz schön mutig, als er einfach hinterhergesprungen ist, um Lokesh zu retten.«
Shan nickte, eher aus Dankbarkeit für Yaos mitfühlenden Tonfall als aus Zustimmung. Er wußte, daß sein Sohn nicht ins Wasser gesprungen war, um jemanden zu retten, sondern um zu fliehen.
Auch der Osten lag in Schutt und Asche. Das Ausmaß der Zerstörungen war noch verheerender als auf der gegenüberliegenden Seite, und große Felsbrocken ragten bis weit in den Gang. Die eingestürzte Decke verhinderte beinahe das Vorankommen im Korridor, und alle Gemälde oder Inschriften, aus denen sich womöglich ein Hinweis ergeben hätte, waren vollständig vernichtet worden.
Sie machten wortlos kehrt und eilten zurück, als verspüre Yao auf einmal das dringende Bedürfnis, so schnell wie möglich zu den anderen zu gelangen. Sie fanden sie in der Kapelle kurz vor dem ehemaligen Westtor, unterhalb der Augenreihe. Lokeshs Antlitz erstrahlte in einem heiteren Glanz, wie Shan es bei seinem Freund nur sehr selten erlebt hatte, obwohl sie sich seit einigen Jahren kannten.
Es war ihnen nicht gelungen, die Geheimnisse der Tunnel zu enträtseln.
»Nichts deutet auf den amban hin«, sagte Yao zu Shan. Er klang ein wenig vorwurfsvoll. »Wir haben nicht mal einen Hinweis auf die Diebe gefunden, abgesehen von etwas Zigarettenrauch.« Er schüttelte den Kopf. »Rauch!«
»Aber dies ist der Palast«, sagte Lokesh, als sei Yaos Enttäuschung ihm völlig unbegreiflich.
Yao ignorierte ihn. »Es gibt keine weitere Ebene. Das hier istnicht Kwan Lis Palast, und die Diebe dürften zu der gleichen Erkenntnis gelangt sein. Sie können inzwischen sonstwo stecken. Wir haben den ganzen Tag vergeudet, und falls wir nicht wieder durch dieses schwarze Wasser tauchen«, sagte er in einem Tonfall, der seinen Widerwillen deutlich zum Ausdruck brachte, »haben wir uns selbst hier eingesperrt.«
»Die Schneeleoparden sind die Botschaft«, sagte Shan zögernd. »Das große Bild am Nordtor muß etwas zu bedeuten haben.« Er führte die anderen ein Stück den Gang entlang und zeigte ihnen die kleinen Raubkatzen an den Schultern der Götter.
»Da steht etwas geschrieben!« rief Liya und hielt ihre Lampe dicht neben einen der Leoparden. Ein paar winzige
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