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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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tibetische Schriftzeichen wurden sichtbar. »Und hier auch, über jedem der Tiere.«
    »Die wahre Natur der Dinge ist nichtig«, las Lokesh langsam vor. »Das klare Leuchten der Leere ist das Erwachen des Bewußtseins.« Die Worte entstammten dem Bardo, den Todesriten.
    »Leere.« Corbett leuchtete den schwarzen Korridor hinunter. »Davon gibt es hier jede Menge.«
    »Aber das Zitat ist unvollständig«, sagte Shan und wandte sich an Lokesh. »Der tatsächliche Wortlaut ist etwas anders.«
    Lokesh nickte. »In der Mitte fehlt ein Stück. ›Das klare Leuchten der Leere, ohne Mittelpunkt oder Begrenzung, ist das Erwachen des Bewußtseins.‹ Das wäre die korrekte Formulierung.«
    »Und was ist Leere mit einer Begrenzung?« fragte Shan. »Ein Loch«, sagte er gleich darauf und schilderte, was er in der Kapelle entdeckt hatte: die sorgfältig versteckten Löcher und Wandhaken.
    Sie untersuchten die Räume ein weiteres Mal, und Shan sammelte sämtliche Haken ein. Zehn Minuten später rief Dawa sie aufgeregt in eine Kapelle, die auf halbem Weg zwischen Ost- und Südtor lag. Als Shan mit Corbett und Liya dort eintraf, zeigte das Mädchen ihnen vier Löcher, die alle an einer Wand lagen. Jedes Loch war als Fleck auf dem Fell eines kleinenSchneeleoparden getarnt, und die vier Tiere umringten das größere Abbild einer grimmigen Schutzgottheit. Die oberste Katze barg einen winzigen Mönch in der Pfote.
    Shan steckte die langen schweren Haken, die er mitgebracht hatte, in die Löcher. Sie waren in gleichmäßigem Abstand angeordnet und verliefen diagonal von links unten nach rechts oben. Das erste Loch lag knapp fünfzig Zentimeter über dem Boden, das letzte einen Meter weiter rechts und etwa dreißig Zentimeter von der Oberkante der Wand entfernt.
    »Eine Treppe!« rief Liya.
    »Nur leider führt sie nirgendwohin«, gab Corbett zu bedenken.
    Shan stieg auf den ersten und weiter auf den zweiten Haken. Er mußte sich bücken, um nicht an die Decke zu stoßen. Der Fels über seinem Kopf wirkte im ersten Moment solide, aber als Shan alles genau ausleuchtete und an mehreren Stellen drückte, ließ ein Teil sich bewegen. »Das ist Holz«, erklärte er. »Eine Tür.« Die Luke sah dank sorgfältiger Schnitzarbeiten und einem entsprechenden Anstrich wie der umliegende Stein aus, und sogar die Kanten verliefen unregelmäßig und fügten sich exakt in die gewölbte Felskante ein. Shan schob die Abdeckung beiseite. Darüber tauchte eine Kammer auf. Als er wieder hinabkletterte, drang schale und intensiv nach Weihrauch riechende Luft nach unten.
    Shan drehte sich um und wollte Lokesh die Ehre überlassen, sie in die alten Räume zu führen, doch eine schmale Gestalt drängte sich jäh an ihnen vorbei, sprang hastig die Stufen hinauf und verschwand in der Dunkelheit über ihren Köpfen. Nur ein kleiner, glänzender Gegenstand blieb zurück. Er war Ko aus der Tasche gefallen.
    Corbett hob das Objekt auf. Es handelte sich um die anmutige Silberfigur eines Gottes. »Ihr Sohn hat sehr guten Geschmack«, sagte er zu Shan.
    Die kleine Eingangshalle der zweiten Ebene war ebenfalls mit Wandgemälden der Schutzdämonen ausgestattet. Dahinter lag jedoch kein kreisförmiger Tunnel, sondern eine Vielzahl von Torbögen. Jeder Durchgang führte in eine kleine Kapelle,von der mindestens zwei weitere Kapellen abzweigten. Es war ein Labyrinth.
    »Dennoch muß es auch hier eine ringförmige Anordnung geben, eine Folge von Kapellen, die im Kreis um einen Mittelpunkt gruppiert sind«, sagte Lokesh. »Man kann es in dem Durcheinander nur nicht gleich sehen.« Er wies auf das größte der Gemälde in der Halle. Darunter stand eine Inschrift.
    Shan erkannte Atisha, einen der größten tibetischen Lehrmeister, eingerahmt von den kleineren Abbildern nicht ganz so bedeutender Heiliger. Atisha trug die für ihn typische enganliegende und spitz zulaufende Kappe. Die kleineren Figuren nahmen eine der traditionellen Form gemäße Haltung ein, aber Atisha saß entspannt und asymmetrisch da. Seine Gestalt war von einem großen Quadrat umgeben, und ein Fuß ragte über den Rand dieser Fläche hinaus, als wolle der Heilige aus dem Gemälde steigen. Das alles wirkte irgendwie eigentümlich.
    Als Shan vortrat, stieß er mit dem Schuh gegen einen der großen Wandhaken. Er sah genauer hin. Dort lagen insgesamt vier der langen Eisen am Boden, als sei jemand hinaufgestiegen und habe hinter sich die Trittstufen entfernt, um seine Spuren zu verwischen.
    »Die größte

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