Der verlorene Sohn von Tibet
betrachtete den Heiligen mit dem gleichen Ausdruck sehnsüchtiger Ehrfurcht, den Shan oft auf den Gesichtern alter Tibeter gesehen hatte.
»Es fühlt sich nicht so an, als sollten wir hier sein«, flüsterte der Amerikaner.
»Hier werden wir sie finden«, sagte Shan. »Die Verbrecher, nach denen Sie suchen.«
»So meine ich das nicht.«
Shan musterte ihn. »Nicht wie ein Ermittler, meinen Sie.«
Corbett nickte langsam und schaute in die Dunkelheit. »Ich habe irgendwie den Eindruck, daß ich mich noch nie so weit von der Welt entfernt habe oder entfernen werde wie in diesem Moment. Lokesh hat recht. Es ist wirklicher als wirklich. Vor vielen Jahrhunderten haben hier Menschen gesessen und Dinge getan, die wichtiger waren als alles, was wir je tun werden.«
Shan schwieg lange Zeit. Corbetts Worte waren wie ein Gebet an die Götter. »Lokesh erzählt manchmal von Orten der Wahrhaftigkeit«, sagte Shan schließlich, »an denen man einen kurzen Blick auf den wesentlichen Kern der Welt erhascht – oder auf das Leben, wie es sein sollte.«
Corbett nickte erneut. »Und er hat die bayals erwähnt, die verborgenen Länder. Vielleicht ist es alles das gleiche. Die Orte der Wahrhaftigkeit liegen gut versteckt vor der verdammten Welt, die wir erschaffen haben. Als ich durch dieses schwarze Becken geschwommen bin, hat sich das nicht wie Wasser angefühlt. Es war wie ein dichter, fast greifbarer Schatten, als wäre man in einem Abgrund, der die Dunkelheit bündelt.« Er hob eine Hand vor das Gesicht und atmete tief durch. »Wie kann es hier Kriminelle geben?« Shan dachte, nun würde doch wieder der Ermittler sprechen, bis Corbett eine weitere Frage stellte, diesmal an den Heiligen gerichtet. »Wie können sie hier sein und Kriminelle bleiben?«
Der Amerikaner nahm seine Wasserflasche und trank ein paar große, beinahe gierige Schlucke, als ließe sich der Bann, unter dem er stand, auf diese Weise brechen. »Tut mir leid«, sagte er keuchend, als er die Flasche absetzte. »Ich schätze, ich habe in letzter Zeit zuwenig geschlafen.« Er ging mit verlegener Miene weiter, und Shan fing wieder an, Reis zu streuen.
Eine Viertelstunde später standen sie in der zwanzigsten Kammer seit der Eingangshalle und konnten noch immer kein Muster in der Anordnung der Räume oder einen Hinweis auf den Gemälden entdecken. Yaos Karte hatte sich in ein wirres Durcheinander aus Linien verwandelt. In jeder der Kapellen war mindestens eine der Wände gewölbt, es gab keine geraden Wege, und nie konnten sie weiter als sechs oder sieben Meter blicken. Die gemalten Szenen der buddhistischen Mythenweltverwandelten jeden Raum in einen eigenen kleinen Palast. Lokesh war wieder bei vollem Bewußtsein, doch dafür schien nun Dawa mit offenen Augen zu träumen. Die Angst, die das Mädchen in den unterirdischen Gewölben zunächst verspürt hatte, war nicht weiter angewachsen, sondern hatte sich entgegen Shans Befürchtung vollständig gelegt. Inzwischen lächelte Dawa und wirkte mitunter sogar heiter und gelassen.
Plötzlich hörte Shan, daß jemand aus der nächsten Kammer nach ihm rief. Corbett winkte ihn hastig herbei.
Der Raum war nicht mit Kunstwerken ausgestattet, zumindest nicht mit den farbenfrohen Abbildungen von Gottheiten oder Heiligen. Statt dessen waren die Wände mit verblichenen Worten bedeckt. Liya verschaffte sich einen kurzen Überblick und zeigte dann auf die obere Ecke einer Wand. »Hier fängt es an«, sagte sie und las langsam vor. »Ich erschaffe einen Palast der Weisheit. Er wird nicht klein sein.« Sie verstummte, überflog den Text und schaute zur nächsten Wand, bevor sie weitersprach. »Es ist ein sehr altes Gebet«, erklärte sie. »Genaugenommen ein Lied, das ›Gebet für den Gott der Ebene‹ heißt.« Sie sah zu Corbett und Yao. »Ich glaube, hier haben die alten Künstler damals angefangen. Als die Buddhisten die ersten Tempel in Tibet errichten wollten, wurden diese stets durch Erdbeben zum Einsturz gebracht. Dies ist eines der ursprünglichen Gebete zur Beschwichtigung der großen Erdgötter. Das Land sollte versöhnlich gestimmt werden, damit man Tempel bauen konnte.« Sie sah Shan an und lächelte wissend. Dies war einer der Orte, an dem vor tausend Jahren die Erdbändigung begonnen hatte.
An die erste Kammer schloß sich ein halbes Dutzend weiterer Räume voller Schriftzeichen an. Lokesh und Liya studierten alle Wände und gaben immer wieder erfreute Laute von sich, sobald sie die Sutras oder anderweitigen
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