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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Meditation«, sagte Liya. Shan blickte auf und sah, daß sie den Text unter dem Gemälde vorlas. »Die größte Weisheit.« Das war alles.
    »Es ist eine Abkürzung«, stellte Lokesh nachdenklich fest. »Eine Art Zusammenfassung. Der vollständige Vers lautet: ›Die größte Meditation ist ein Geist, der losläßt. Die größte Weisheit ist die Nichtachtung äußeren Scheins.‹«
    Yao holte seinen ungefähren Lageplan des unteren Rings hervor, drehte ihn um und skizzierte die Kammer, in der sie sich aufhielten.
    »Und hier«, fuhr Lokesh fort und deutete dabei auf die Inschrift unter einem Bettelmönchstab, der auf zwei Haken quer über einem der Durchgänge lag. »›Es ist das einzige, das uns gehört, und doch suchen wir es anderswo‹«, las er. »Eine alte Lehre. Sie besagt, daß wir die Wahrheit in uns tragen, ohne es zu erkennen.«
    Shan wagte sich einen Schritt in die erste Kapelle vor. »Reis«, sagte er und drehte sich zu Corbett um, der ihren Proviant trug.
    Der Amerikaner sah ihn fragend an, öffnete aber wortlos den Rucksack und gab Shan einen kleinen weißen Stoffbeutel. Shan riß eine Ecke auf. »Wir müssen zusammenbleiben«, sagte er und schob den Lukendeckel an die ursprüngliche Stelle zurück. »Und wir markieren unseren Weg.« Er ging los und ließ dabei etwas Reis aus dem Beutel rieseln.
    Sie befanden sich in der vierten Kammer, als Yao nach Shan rief. Shan wandte sich von einem der prächtigen Gemälde ab und sah, daß der Inspektor einen schwarzen Zylinder anleuchtete, der am Boden lag. Es war eine metallene Taschenlampe, wie sie alle sie aus dem Bestand der Soldaten erhalten hatten. Das Glas und die Glühbirne waren zerbrochen. Ko hatte eine solche Lampe bei sich getragen.
    Corbett nahm den Boden in Augenschein. Der bröckelnde Putz hatte alles mit einer Staubschicht überzogen, so daß man deutlich einige Stiefelabdrücke erkennen konnte. »Er ist gerannt«, sagte der Amerikaner. »Dann hat er sich offenbar umgeschaut und ist gegen die Wand gestoßen.« Corbett wies auf eine Säule vor ihnen, die zwei Durchgänge voneinander trennte.
    Shan starrte nach vorn in die Finsternis. Ohne Licht konnte Ko zu Tode stürzen oder ziellos durch das unheimliche Labyrinth stolpern und sogar den Dieben über den Weg laufen, die womöglich Gewalt anwenden würden.
    Er registrierte neben sich eine Bewegung und sah, daß Dawa an Lokeshs Arm zerrte. »Aku, du hast recht!« flüsterte sie laut. »Manche der Götter sind immer noch am Leben!« Sie beugte sich vor und zeigte auf etwas. Lokesh und Shan gingen in die Hocke, konnten aber nichts erkennen. Dann bat Dawa um Shans Lampe und hielt sie waagerecht dicht über den Boden, so daß die Schatten anders fielen. Zunächst sah Shan nur verwischte Flecke im Staub, aber dann wurde ihm klar, daß sie in gerader Linie verliefen. Am Vorderende wiesen die Flecke einen Halbkreis aus kleinen Ovalen auf. Es waren die frischenAbdrücke nackter Füße. Die Spur verlief bis in die Dunkelheit und verlor sich dann, weil der Staub wieder glattem, kahlem Fels wich. Gendun würde in einem Tempel niemals Stiefel tragen.
    Während Shan in die Schwärze blickte, wurde er Zeuge eines kurzen Gesprächs. Der Amerikaner fragte Liya, wonach sie hier oben suchen sollten, denn immerhin müsse es ja eine Art Anhaltspunkt geben. Liya reichte die Frage an Lokesh weiter, doch er antwortete nicht. Als Shan sich zu seinem alten Freund umdrehte, sah er ihn vor einem weiteren Abbild des sanften Heiligen Atisha sitzen. Lokesh war in einen Zustand der Verzückung versunken, den Shan bereits von ihm kannte. Er hatte vor der Brust die Fingerspitzen und Ballen beider Hände aneinandergelegt, als würde er eine unsichtbare Kugel halten. Das mudra des Schatzkästchens.
    Yao drang weiter in das Gewirr aus Räumen vor und vervollständigte eifrig den Lageplan.
    »Wir sollten jetzt gehen«, sagte Shan zu Lokesh. Der alte Tibeter schien ihn nicht zu hören, doch als Dawa ihn sanft am Hemd zog, folgte Lokesh den anderen. Er ging wie ein Blinder, lächelte immer noch und formte weiterhin das Schatzkästchen. Shan wußte, daß dies nichts mit dem Schatz zu tun hatte, den die anderen zu finden hofften. Lokesh trug seinen Reichtum im Herzen, und erlangt hatte er ihn durch den Anblick der alten Gemälde.
    Shan verharrte grübelnd, bis ihm klar wurde, daß er allein war. Er wollte sich soeben auf den Weg machen, als er hinter sich ein leises Geräusch hörte. Dort stand Corbett. Er hatte die Lampe ausgeschaltet und

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