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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ähnliche Stellung wie Inspektor Yao heute.«
    »Falls du tatsächlich so wichtig warst, hättest du mich doch aus dem Knast holen können.«
    »Ich war selbst im Gefängnis.« Er hörte Ko noch ein paar Walnüsse essen. »Wenn wir uns Rücken an Rücken stellen und ganz langsam gehen, können wir nach einem Lichtschimmer Ausschau halten und zu den anderen zurückkehren.«
    »Die wollen mich doch gar nicht.«
    »Sie brauchen dich. Du mußt einfach nur die Sachen ablegen, die du eingesteckt hast.«
    »Warum?«
    »Weil du ein Kalfaktor bist. Und falls Inspektor Yao zu dem Schluß gelangt, daß er dir vertrauen kann, sorgt er vielleicht dafür, daß du bei der Rückkehr in dein Gefängnis eine bessere Stellung erhältst.« Außerdem mußt du aufhören, die Gottheiten zu beleidigen, die hier leben, hätte Shan am liebsten hinzugefügt.
    »Also gut«, sagte Ko langsam.
    Shan hörte Stoff rascheln und ein paar metallische Geräusche, kleine Gegenstände, die aneinanderstießen. Dann stand Ko auf und tastete nach Shans Arm. Shan drehte sich um, und sie standen Rücken an Rücken.
    »Es ist schlimm in den Kohlengruben«, sagte Shan, nachdem er eine Minute lang in die Dunkelheit gestarrt hatte.
    »Stell dir deine schlimmste Hölle vor«, flüsterte Ko, »und dann multipliziere sie mit zehn. Deine Schicht dort dauert zwölf Stunden, jeden Tag, das ganze Jahr. Ob es kalt ist oder heiß, regnet oder schneit, ist gleichgültig. Zweimal am Tag gibt es lauwarmen Reisbrei, und du betest, daß du zusätzlich ein Insekt oder einen Wurm findest. An meinem ersten Tag dort habe ich gesehen, wie ein Mann einen Vogel fing, ihm den Kopf abbiß, kaute und schluckte. Dann hat er sich den Rest in den Mund gestopft, mit Federn und allem. Nach einem Monat habe auch ich versucht, Vögel zu fangen. Jeden Abend fällst dutodmüde um, aber die beschissenen Läuse wecken dich immer wieder auf, denn sie nagen die ganze Zeit an deiner Haut.«
    Etwas in Shan hoffte inständig, daß Ko nicht weiterreden würde. Er wollte nichts mehr hören. Kos Rückkehr in diese Hölle war unabwendbar, und es stand nicht in Shans Macht, seinem Sohn zu helfen.
    »Nie gibt es Handschuhe«, fuhr Ko fort. Er klang, als sei er weit weg. »Und praktisch keine Werkzeuge, nur alte Hämmer und stumpfe Meißel. In meiner ersten Woche sah ich einen Mann mit kleinen weißen Kappen über den Fingern und fragte ihn, was das sei. Er lachte und sagte, das sei die Belohnung für Sträflinge, die zehn Jahre überlebten. Erst später, als mir noch andere Männer mit solchen Händen auffielen, begriff ich, daß es die Fingerknochen waren. Die Haut dort nutzt sich immer mehr ab. Nach zehn Jahren schrumpft das Fleisch ein, und die Knochen treten wie kleine weiße Knoten hervor. Scheiße!« Seine Stimme zitterte. »Das ist die Wahrheit.«
    Auch Shan zitterte. Er wußte, daß dort Ko, der jugendliche Häftling zu ihm sprach, aber er hörte die Stimme von Ko, dem achtjährigen Jungen.
    Schweigend gingen sie los.
    »In einem der Räume hier habe ich jemanden gespürt«, sagte Ko auf einmal. »Ich habe seine Schulter berührt. Ein Geist, glaube ich. Er sagte, wenn ich bei ihm sitzen bliebe, könnte ich lernen zu verstehen. Ich bin weggerannt und habe mir schon wieder den Kopf gestoßen. Ich muß es mir eingebildet haben. Der Mann kann unmöglich real gewesen sein.«
    Shan blieb stehen und widerstand dem Impuls, Genduns Namen zu rufen.
    »Ich sehe Licht!« rief Ko.
    Shan wandte sich um und entdeckte in der Ferne einen Schimmer. Je näher sie kamen, desto heller wurde es. Dann erkannten sie die sich bewegenden Lichtstrahlen von Taschenlampen und hörten vertraute Stimmen angespannt flüstern. Als Shan und Ko die anderen erreichten, standen Lokesh und Liya vor einer neuen Wand voller Text und mühten sich mit der Übersetzung ab.
    Yao blickte Ko stirnrunzelnd entgegen und reichte Shan eine Wasserflasche. Als Ko vortrat, um die Flasche zu greifen, sah Shan, daß er die Diebesbeute nun nicht mehr in den Hosentaschen, sondern in den Jackentaschen trug. Sein Sohn hatte die Artefakte nicht abgelegt, nur umgepackt.
    Dann bemerkte Shan, wie verwirrt Liya und Lokesh wirkten. Sie schienen die Worte zwar entziffern, aber nicht einordnen zu können. Es handelte sich nicht um einen der alten Lehrtexte. Über den Zeilen waren kleine weiße Vögel aufgemalt, die wie Tauben aussahen, und an den Seiten Blumen, offenbar Rosen mit spitzen Dornen.
    »Die hier ist nicht so alt wie manche der anderen Inschriften«,

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